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Bretonische Brandung

Bretonische Brandung

Titel: Bretonische Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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die bis heute jenseits moralischer Fragen sehr verehrt wurden, denn einzig entscheidend war: Sie kamen aus der Bretagne und waren weltberühmt. Nolwenns Heldin, nach der sie ihre erste Tochter genannt hatte, war die »Tigresse de Bretagne«, Jeanne de Belleville, die »bretonische Tigerin«: die verbürgt erste Piratin der Weltgeschichte. Eine atemberaubend schöne Frau aus dem Adel der damals noch eigenständigen (!) Bretagne, die im 13. Jahrhundert mit einer »Flotte« von nur drei Booten in tollkühner Weise unzählige hochgerüstete Schiffe zerstört hatte – Schiffe eines Todfeindes: des französischen Königs.
    Am westlichen Ende der Insel waren die Ruinen der Soda-Fabrik auszumachen, in der aus Algen industrielles Soda für die Herstellung von Glas, Wasch- oder Farbmitteln gewonnen worden war, Anfang des 20. Jahrhunderts ein kostbarer Stoff, was sich heute niemand mehr vorstellen konnte. Jetzt sah man plötzlich auch den erstaunlichen See. Ein wenig unwirklich, wie eine glatte Fläche lag er da, man sah die unglaubliche Farbe, für die er berühmt war: ein leuchtendes, fast phosphoreszierendes Grüngraublau. Dabei war das Besondere die eigentümliche tiefe Intensität des Tons. Dupin musste, ob er wollte oder nicht – und er versuchte angestrengt, nicht zu wollen –, unwillkürlich an Goulchs Geschichten über den See denken. Die Hexe. Groac’h. Er verstand sofort, dass dieser See der Fantasie weite unheimliche Flügel verlieh. Einen Augenblick fröstelte er. Bilder tiefschwarzer Unterwasserhöhlen-Labyrinthe tauchten unwillkürlich vor seinem inneren Auge auf.
    Dupin hatte gedacht, es wäre eine gute Idee, etwas herumzulaufen. Sich umzusehen. Aber eigentlich gab es gar keinen Grund. Wonach sollte er Ausschau halten? Was immer geschehen war, es war bestimmt nicht auf Le Loc’h geschehen, es würde hier also auch nichts geben, was von Relevanz wäre. Er hatte im Grunde nicht die geringste Ahnung, was er überhaupt noch auf der Insel sollte. Sie mussten die Identität der Toten ermitteln und herausfinden, was den drei Männern zugestoßen war. Dazu würde er vor Ort keinen Beitrag leisten können.
    Es war bisher überhaupt nicht Dupins Tag gewesen, dieser Montag. Der Kommissar hatte nicht viel und nicht gut geschlafen, dabei funktionierte das mit dem Schlafen seit einiger Zeit eigentlich passabel, zumindest für seine Verhältnisse. Er war die ganze Nacht unruhig gewesen, ohne zu wissen, warum. Sicher war, er brauchte einen café. Unbedingt. Und sofort.
    Dupin holte das Handy aus seiner Tasche.
    »Riwal?«
    »Monsieur le Commissaire?«
    »Könnten Sie Goulch bitten, dass mich die Bir nach Saint-Nicolas fährt?«
    »Nach Saint-Nicolas? Jetzt?«
    »Genau.«
    Es entstand eine längere Pause, und in der Stille war Riwals Frage, was der Kommissar jetzt auf Saint-Nicolas vorhabe, quasi zu hören. Riwal fragte nicht, nach Jahren der Zusammenarbeit mit dem eigenwilligen, bisweilen dickschädeligen Kommissar wusste er, was sinnvoll war und was nicht.
    »Ich nehme an, Saint-Nicolas wird der Umschlagplatz für alle Neuigkeiten hier auf dem Archipel sein, oder? Bei der Gelegenheit kann Goulch seinen Kollegen abholen und ich vielleicht noch einmal ein paar Worte mit dem Engländer wechseln.«
    »Ich spreche mit Goulch. Sie müssten nur wieder zum Strand kommen, man wird Sie an anderen Stellen der Insel nicht abholen können.«
    »Kein Problem. Ich bin gleich da.«
    »Gut.«
    »Riwal – die Bar dort wird doch schon aufhaben, oder?«
    »Die Bar?«
    »Das Café.«
    »Ich habe keine Ahnung, Chef.«
    »Mal sehen.«
    Die hölzernen Hummerkäfige mit den geflochtenen, vom Meer ausgewaschenen hellblauen Tauen standen zu Dutzenden wild herum, hier und da zu kunstvollen Türmen gestapelt, rechts vom Hauptquai zu regelrechten Gebirgen. Dupin saß auf einem der wackligen, abgeblätterten Holzstühle, die zusammen mit den Tischen weit verteilt draußen vor der Bar standen, und bestaunte die Käfige.
    Das Les Quatre Vents war augenfällig nicht als Restaurant, Café oder Bar gebaut worden. Es war das Bootshaus der ersten Seerettungsgesellschaft der Küste gewesen, die in Concarneau ihren Hauptsitz hatte, aber hier draußen ihre, aufgrund der dauernden Einsätze, wichtigste Dépendance. Über hundert Jahre war es alt, und man hatte es außen gar nicht und innen nur wenig und ohne großen Aufwand umgebaut. Links ein kleiner, windschiefer, provisorisch aussehender Anbau aus Holz, weiß gestrichen wie das steinerne Haupthaus, der über

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