Bretonische Brandung
seine Sache, sosehr er das Meer auch liebte – wie ein genuiner Pariser des sechsten Arrondissements, denn das war er bis zu seiner »Versetzung« vor jetzt fast vier Jahren gewesen, das Meer eben liebte: den Strand, das Schauen, bestenfalls das Baden, das Gefühl, den Geruch, das Schwärmen. Noch weniger als das Bootfahren an sich mochte er das Bootfahren auf einem der beiden neuen Schnellboote, die die Wasserschutzpolizei vor zwei Jahren nach langen verbissenen Kämpfen mit der Bürokratie erhalten hatte und deren ganzer Stolz sie waren. Die neueste Generation, imposante Hightechwunder, Sonden und Sensoren für alles. Sie schossen förmlich über das Wasser. Ein Boot war auf den Namen Bir getauft – »Pfeil« auf Bretonisch –, das zweite auf Luc’hed, »Blitz«. Boote hatten Dupins Empfinden nach anders zu heißen, aber es hatte nur die Bedeutung gezählt.
Kommissar Dupin fehlte zudem Koffein, das ließ ihn grundsätzlich mürrisch werden. Zwei cafés waren nicht annähernd genug. Er war eher massiger Statur, nicht dick, sicher aber auch nicht dünn, und litt seit seiner Jugend an erstaunlich niedrigem Blutdruck.
Widerwillig war er an Bord gegangen. Eigentlich nur, weil er sich keine Blöße hatte geben wollen und weil Inspektor Riwal, einer seiner beiden jungen Inspektoren, der zu ihm aufsah – was Dupin generell sehr unlieb war –, mit an Bord gegangen war.
Dupin wäre sofort bereit gewesen, die halbe Stunde zum kleinen Flughafen nach Quimper zu fahren, um mit dem kümmerlichen, wackligen Zweimann-Polizeihubschrauber der Zentrale auf die Glénan zu fliegen, selbst wenn es insgesamt deutlich länger gedauert hätte und auch das Fliegen keineswegs ein Vergnügen für ihn war. Aber sein Vorgesetzter, der Präfekt, war mit dem Hubschrauber unterwegs, ein »freundschaftliches Treffen« mit der Präfektur der britischen Kanalinseln Guernsey, Jersey und Alderney, in Bordeaux, einem dösigen Kaff auf Guernsey. Die polizeiliche Zusammenarbeit sollte, das war der entschiedene englische wie französische Wille, intensiviert werden: »Das Verbrechen darf keine Chance haben, egal welche Nationalität es hat«. Kommissar Dupin konnte den Präfekten Lug Locmariaquer nicht ausstehen, und noch jetzt, nach annähernd vier Jahren, konnte er den Namen nicht aussprechen (Georges Dupin hatte generell ein zumeist schwieriges Verhältnis zu Autoritäten, vollkommen zu Recht, wie er fand). Über Wochen hatte er zunächst nervende, dann quälende Anrufe vom Präfekten bekommen, der »Ideen sammelte«, worüber zu sprechen wäre bei einem solch illustren Treffen. Nolwenn, Dupins unendlich patente Assistentin, hatte auf Locmariaquers Anweisung hin »ungeklärte Fälle« der letzten Jahrzehnte recherchieren müssen, die »vielleicht, eventuell und irgendwie« eine Spur zu den Kanalinseln aufwiesen, Fälle, die »vielleicht, eventuell und irgendwie« aufgeklärt »hätten werden können«, wenn es bereits eine engere Zusammenarbeit gegeben hätte. Es war völlig lächerlich. Nolwenn hatte sich gesträubt. Ihr fehlte jedes Verständnis dafür, warum man sich hier »im Süden« mit dem Kanal im hohen Norden zu befassen hatte, wo die Eisberge durchs Meer trieben und es das ganze Jahr über regnete. Meterweise Akten waren gewälzt worden, sie hatten nicht einen signifikanten Fall gefunden – worüber der Präfekt partout nicht glücklich gewesen war.
Was Dupins Laune auf dem Boot nicht verbessert hatte, war der kleine »Unfall« gewesen, zu dem es bereits kurz nach dem Ablegen gekommen war. Er hatte getan, was nur schlimmste Landratten tun: bei dieser Geschwindigkeit, steifem Wind von Backbord und doch etwas agitierter See ebendort, nämlich auf der Backbordseite, einen Blick auf die Inseln zu werfen, während Inspektor Riwal wie die zwei Mannschaftsmitglieder der Bir penibel eng an der Steuerbordseite gestanden hatten. Es hatte nicht lange gedauert, bis ihn eine kapitale Welle erwischte. Kommissar Dupin war klatschnass geworden. Seine stets offen getragene Jacke, das Polohemd und die Jeans – seine Dienstkleidung von März bis Oktober – klebten am Körper, lediglich die Socken in den Schuhen waren trocken geblieben.
Was den Kommissar jedoch besonders missmutig machte, war die Tatsache, keine weiteren Informationen zu besitzen als nur das eine Faktum: dass eben drei Leichen gefunden worden waren. Dupin war kein Mann der Geduld. Ganz und gar nicht. Kadeg, sein zweiter Inspektor, mit dem er in der Regel auf Kriegsfuß stand, hatte
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