Brief in die Auberginenrepublik
mir kaltes Wasser aus dem Kühlschrank und bleibe wieder unschlüssig stehen, begebe mich dann ins Wohnzimmer und setze mich auf das Sofa. Durch die offene Tür, die auf die zum Sonnenaufgang ausgerichtete Terrasse führt, blicke ich in den Garten und auf das Schwimmbad der Villa. Draußen ist es immer noch hell. Ich greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher ein.
Im Jugend-TV singt gerade Assala Nasery:
Hin und wieder gehen der Ton und die Sekunden
verloren
,
eine Sekunde nach der anderen
.
Auch die Rose welkt in meiner Hand und verlässt mich
,
als wäre ich allein auf der Welt…
Auf einer leeren nebligen Straße nähert sich mir eine Frau, die sich aus dem Dunst windet. Eine seltsame Frau, ohne Gesichtszüge, eigentlich nur ein schwarzer Kopf mit langen dunklen Haaren. Vor mir stehend, stellt sie sich vor: »Hallo, ich bin Samia«, sagt sie. Ich antworte nicht. Sogleich löst sie sich auf, doch nicht lange, und ich sehe sie wieder, verwandelt in Wind. Wieder bin ich allein. Auf einmal halte ich eine weiße Rose in meiner Hand. Wie in Zeitlupe fällt sie in sich zusammen, rollt sich Blatt für Blatt ein, und dann verschwindet sie, genau wie Samia. Meine beiden süßen Töchter, meine Zwillinge, sitzen auf einem Balkon. Aber wo ist das Haus? Nur ein Balkon, der in der Luft schwebt? Die beiden rufen, springen von ihrem Stuhl auf und klatschen aufgeregt in die Hände: »Komm her, Mama!« Eine schwarze Taube kommt aus der Leere und landet bei den Mädchen. Urplötzlich verliert sie ihre schwarze Farbe, wird zu einer weißen Taube und verwandelt sich schließlich in eine Frau. Samia? Dann wieder eine Rose. Der Balkon verschwindet.
Ich höre eine Stimme. Jemand redet mit mir auf Englisch. »Mrs Miriam! Wake up! Aufwachen!«
»Was?«
Das pakistanische Kindermädchen Samer überrascht mich. »Sie hatten einen Albtraum. Sie haben geschrien. Ist alles in Ordnung?«
»Ja! Bitte stell den Fernseher aus!«
Samer nimmt die Fernbedienung und sagt: »Mr Ahmed hat angerufen, er kann heute nicht nach Hause kommen. Aber morgen Abend vielleicht.«
»Danke. Ist mit den Kindern alles in Ordnung?«
»Ja, aber sie möchten Sie sehen!«
»Nicht heute. Ich will allein sein. Geh zurück an die Arbeit!«
Die Babysitterin legt, nachdem sie das Fernsehgerät ausgeschaltet hat, die Fernbedienung zurück auf den Tisch und geht Richtung Kinderzimmer.
Ich bin sehr hungrig, stehe auf und gehe zurück in die Küche, esse eine Orange, dann eine Banane, noch eine Banane, wieder eine Orange. Trinke Orangensaft, nehme ein Glas Wasser und begebe mich damit ins Schlafzimmer. Dort lege ich mich aufs Bett. Meine Zähne sind noch nicht geputzt. Erneut erhebe ich mich und gehe ins Bad.
Im Spiegel betrachte ich mein Gesicht, wasche es und beginne, meine Zähne zu putzen. O Gott, ich sehe elend aus! Die dunklen Augenringe. Mein Gesicht abwendend, hocke ich mich auf die Toilettenschüssel. Während ich weiter meine Zähne putze, betrachte ich die mit Entchen und Blumen verzierten Wände aus Marmor und lausche dem Rauschen der Spülung. Ich säubere mich und stelle mich wieder vor den Spiegel, wasche nochmals mein Gesicht, spüle meinen Mund aus, sehe mein Spiegelbild an und sage laut: »Geh und schlaf bitte!«
Fast Mitternacht und der Schlaf will nicht kommen. Ohne es zu wollen, denke ich die ganze Zeit nur an Ahmed und den Brief. Fragen über Fragen, sie nisten sich ein und wirbeln ohne Ordnung und Zusammenhang durch meinen Kopf.
Wer ist K.? Was ist sein Job? Warum darf er einfach die Briefe der Menschen begutachten? Wird Ahmed diese Frau, Samia, jetzt wirklich festnehmen? Wieso? Wie soll ich mir das erklären? Ein Kunstprojekt? Mit so etwas wollte ich nie zu tun haben, mich niemals damit beschäftigen, nie wissen, was die Männer meiner Familie treiben. Weder mein Vater, noch meine Brüder oder mein Mann und die Männer seiner Familie. Warum sollte ich auch? Warum aber habe ich dann das Arbeitszimmer durchsucht? Reine Neugier. Mehr nicht. Ich wollte mehr über das Kunstprojekt erfahren, das nun plötzlich keine Kunst und auch kein Projekt mehr ist. Wie sehr ich es bereue, dieses Zimmer betreten zu haben. Alles, was eine irakische Frau sich wünscht, besitze ich: eine Familie, einen netten Mann, zwei schöne Töchter und eine Villa. Alles, was ich brauche, bekomme ich aus dem Ausland. Finanzielle Probleme kenne ich nicht. Was will ich mehr? Warum sollte ich mir überhaupt Gedanken machen über diese Samia? Ich muss endlich
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