Brief in die Auberginenrepublik
und hast alles. Für Dich ist es einfach, eine anständige Frau zu sein, wie man das nennt. Für mich nicht. Du hast Dein Schicksal, meines ist ein anderes. Vielleicht werden wir uns nie wiedersehen. Aber ich hielt Dich immer für meine beste Freundin. Vielleicht sehe ich in Dir die Frau, die ich gerne sein würde.
Leb wohl!
Najat
Ich werfe Najats Brief zurück in die Kiste, verlasse den Keller und laufe in mein Schlafzimmer. Mitternacht ist vorbei, doch wie soll ich nach dieser Lektüre meine Augen schließen? Meine Freundschaft zu Najat vernachlässigt zu haben, kann ich mir nicht verzeihen. Bis heute habe ich ihren Brief nicht beantwortet, ihr kein »Danke für das Vertrauen« mitgeteilt. War ich so blind? Warum habe ich ihre Zeilen nicht aufmerksam gelesen? Bald, sehr bald werde ich Najat besuchen. Das nehme ich mir fest vor.
Und Samia? Soll ich sie dem Schicksal überlassen? Das Mindeste wäre, ihr mitzuteilen, dass sie fliehen muss! Warum nicht? Ich gehe los und suche sie! Ahmed kommt erst morgen Abend zurück. Es bleibt viel Zeit! Morgen, gleich nach dem Aufstehen, fahre ich zu ihr! Und wenn Ahmed es herausfindet? Was dann? Ich rede mit dem Chauffeur. Er weiß, er würde seinen Job verlieren, wenn er etwas ausplaudert. Ich bedrohe ihn! Verdammt! Langsam kann ich meine eigenen Fragen und Kommentare nicht mehr ertragen. Mein Kopf schmerzt …
Ich spüre die hellen Sonnenstrahlen auf meiner Haut, die mich mit einer sanften Traurigkeit begrüßen. Es ist 9 Uhr, und ich steige in den Wagen.
»Um 13 Uhr muss ich wieder hier sein, bevor die Kinder aus dem Kindergarten zurückkommen.«
»Wohin?«, fragt mich der Chauffeur Ashraf.
Laut lese ich die Adresse auf dem Briefumschlag vor: »Saddam City, Joader, Block 58.«
»Okay. Das schaffen wir.«
»Mein Mann soll davon nichts erfahren. Hast du verstanden? Sonst verlierst du deinen Job!«
Ashraf schweigt.
Du bist aufgeregt, Miriam! Was denkst du dir dabei? Glaubst du wirklich, alles wäre in Ordnung, wenn Samia nur den Brief liest? Diese Frau soll aber wenigstens erfahren, dass ihr Freund sie liebt und sie sich aus dem Staub machen muss, wenn sie nicht verhaftet werden will. Es ist zu spät, vernünftig zu sein. Das ganze Leben war ich vernünftig, und jetzt habe ich all den Mist am Hals.
Auf der Straße ist kaum etwas los. Vielleicht, weil es noch so früh ist? Das Al-Adamia-Viertel gefällt mir, alles ist sauber und ordentlich. Und doch wirkt es, als ob eine versteckte Traurigkeit darüberliegt. Vielleicht auch nur, weil ich selber so fühle und traurig bin? Und der Fluss? Warum ist der Tigris so still?
»Ich war noch nie in Saddam City.«
»Riesengroß, eine Millionenstadt.«
»Ist es weit dorthin?«
»Nein. Wir sind gleich da«, sagt Ashraf.
»Wir müssen zum Block 58.«
»Das ist am Anfang der City. Einige Kurden leben dort, die Schiiten sowieso. Überall in Saddam City wohnen nur Schiiten.«
»Woher weißt du das?«
»Das ist bekannt, alle wissen das. Herr Ahmed ist, wie Sie wissen, verantwortlich für die Sicherheit in Saddam City.«
Obwohl ich davon nichts weiß, antworte ich: »Ja.«
Es gibt anscheinend viele Dinge, von denen ich nichts weiß. Gibt es eine Frau, die nicht weiß, wo ihr Mann arbeitet? Offenbar schon, mich! Was für eine traurige Gestalt bist du, Miriam!
Das Auto fährt weiter.
»Erzähl mir bitte etwas von dieser Stadt!«
»Gern, Herrin! Man behauptet, es habe vor dem 20. Jahrhundert absolut gar nichts auf diesem Stück Land gegeben. Nur blanke gelbe Erde. Ein dichter Nebel aus Staub über einer wüstenleeren Landschaft, der die Augen der Vorbeigehenden blendete. Über Jahre hinweg war sie unbewohnt und schlechthin unbewohnbar. Deshalb bezeichnete man diese unwirtliche Gegend als ›die nackte Erde von Bagdad‹. 1959 jedoch kamen Bauern und Handwerker aus dem Süden nach Bagdad, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Hauptstadt. Sie betraten diese nackte Erde und beanspruchten sie für sich. Sie schlugen ihre Zelte auf und bauten sich Behausungen aus Blech, Steinen, Holz und Lehm. Seitdem drangen jede Nacht die lauten Stimmen der neuen Bewohner ans Ohr der Stadt, da sie gern um ein Lagerfeuer saßen und ihre traurigen südirakischen Volkslieder und religiösen Gesänge vortrugen. Das geschah genau ein Jahr nach dem Zusammenbruch des Königreichs und der Gründung der irakischen Republik. Einmal besuchte der erste Präsident des Landes das Gebiet der Wanderarbeiter. Als er sah, dass viele Siedler hier unter freiem
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