Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
Vom Netzwerk:
Daseins gleichzeitig nebeneinander fortleben. Der Schmerz um verlorene Kinder in glücklich, lange nachher fortgeführten Ehen ist ein lebendiges, sich oft erneuerndes Beispiel davon. Auch muß es so sein. Der Mensch muß beständig sein und das Schicksal wechselnd erscheinen. Denn in sich hat auch das Schicksal seine, wenngleich von uns nicht eingesehene und nicht erkannte Beständigkeit.
     
     
Bad Gastein
, den 20. August 1829.
     

    I ch bin überzeugt, daß Sie mir, nach Ihrer gewöhnlichen Güte und Freundschaft und nach Ihrer so oft erprobten Pünktlichkeit, genau an dem Tage geschrieben haben, an dem ich Sie bat, Ihren Brief auf die Post zu geben. Dennoch habe ich noch keinen erhalten. Es liegt dies an dem so sehr langsamen Postenlauf. Bis Salzburg gehen die Briefe vermutlich ohne so großen Aufenthalt und bringen nur die der Weite des Wegs angemessene Zeit zu. Allein von da geht die Post
nur zweimal wöchentlich hierher. Hat nun ein Brief das Unglück, gerade den Tag nach dem Abgange anzukommen, so bleibt er unbarmherzigerweise liegen. Es hat mir sehr leid getan zu denken, daß Sie auf diese Weise sehr lange ohne Brief von mir sein werden. Mein letzter war, soviel ich mich erinnere, vom 29. Juli, er muß also in den ersten Tagen dieses Monats in Ihren Händen gewesen sein. Der heutige aber kann erst kurz vor Ende August Sie erreichen.
    Ich bin seit Sonntag, den 16. d. M., wieder in den bekannten Bergen und bewohne dieselben Zimmer wie in den vorigen Jahren. Es ist mir das ganz besonders lieb und eine angenehme Überraschung, welche mir der Zufall bereitet hat. Das Wetter war seit meiner Ankunft hier sehr günstig, nur einen Tag regnete es ununterbrochen mehrmals. Auf den noch garnicht weit entfernten, nur etwas höheren Bergen liegt freilich Schnee. Aber er glänzt freundlich im warmen Sonnenschein, und es hat auch etwas Erfreuliches, den Wechsel des Jahres so mit einem Blick zu übersehen. Die Sonne ist, wo sie trifft, sehr heiß und ordentlich brennend, da die Strahlen auch von den Felsen zurückprallen. Aber vor der Hitze darf man hier niemals bange sein. Die ganze Gegend ist schattig, die vielen großen und kleinen Wasserfälle wehen einem überall eine frische Kühlung zu, und man muß die Sonne, und wenn es nur irgend kühl ist, die warmen Stellen mit Mühe
aufsuchen. Hat man aber eine gewisse, doch nur sehr mäßige Höhe erreicht, so befindet man sich in einem ganz ebenen, freien, sonnenbeschienenen, nur von sehr hohen Bergen umgebenen Tale. Dies ist mein gewöhnlicher Nachmittags-Spaziergang. Kurz vor Tisch pflege ich, doch nur bei heiterem und freundlichem Wetter, einen kürzeren auf die Gloriette zu machen. Ich habe Ihnen so oft von Gastein aus geschrieben, daß ich dieses Ortes gewiß schon gedacht und Ihnen die Lage geschildert habe. Ich will Sie daher nicht mit einer Wiederholung ermüden. Es ist dort eine höchst überraschende, theatralische, dekorationsartig malerische Aussicht, die aber des hellen Glanzes der Sonnenstrahlen auf den schneeweißen Wasserfall bedarf. Bei dunklem Wetter ist es ohne Anmut.
    Ich bin in acht Tagen, also da die Entfernung doch von 110 Meilen ist, nicht gerade langsam hierher gereist.
    Eine solche Reise hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Lesen eines geschichtlichen Buches. Wie in diesem eine Reihe von Zeiten, so durchläuft man reisend eine Reihe von Gegenden. In Absicht auf den Menschen, der doch in aller Weltbetrachtung immer der wichtigste, am meisten den Ernst und die Anstrengung der Beobachtung in Anspruch nehmende Gegenstand ist, trifft bei beiden Fällen der Umstand ein, daß der einzelne in einer gewissen Masse verschwindet, die individuelle Existenz keinen
Wert zu haben scheint gegen die Bestimmung des größeren und kleineren Ganzen, zu dem sie gehört. Dagegen fühlt nun doch der Betrachter, der Lesende oder Reisende, ganz vorzugsweise sein Ich. Er kann auch mit größter Anspruchlosigkeit es sich nicht ableugnen, daß dies für ihn der Mittelpunkt aller Bestrebungen sein muß. Ich meine nicht, um sich äußere Güter, Genuß und Glück zu verschaffen, aber womit gerade oft das freiwillige Aufgeben alles Genusses und Glückes verbunden sein kann, um das Heil seiner Seele zu besorgen. Ich bediene mich mit Absicht dieses Ausdrucks, um keine Art auszuschließen, die der Mensch bei seiner geistigen Veredlung wählen kann. Denn er kann durch immer reichere und reinere Entwicklung seiner Ideen, durch immer angestrengtere Bearbeitung seines Charakters,

Weitere Kostenlose Bücher