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Briefe an eine Freundin

Briefe an eine Freundin

Titel: Briefe an eine Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Humboldt
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Stühle in das Nebenzimmer eile, das aber immer von beiden Seiten verriegelt war. Sehr oft sei es so, daß er glauben müsse, es habe sich jemand auf sein Arbeitszimmer und zu seinen Papieren geschlichen. Trete er aber ein, finde er alles ungeändert, so wie er es verlassen, Bücher, Papiere, Federn usw., alles am gewohnten Platz,
den Stuhl wie den Tisch, an dem er zu schreiben pflegte, unverrückt. Die Mutter, die manche häusliche Geschäfte in einem benachbarten Zimmer, auf demselben Gange, in demselben Stock vorzunehmen pflegte, sagte wohl zu ihren heranwachsenden Kindern: Gott verzeih' mir – ich glaube, Euer Vater ist doppelt! – Was das Grauenhafte ungemein verminderte, war, daß die Nächte und auch die Nachmittage still waren. Vormittags, besonders aber in den Mittagsstunden, waren länger als ein Jahr polternde Geräusche, was auch Besuchende wahrnahmen. Wirklich niederschlagend war es, daß alle Wahrnehmungen nicht bloß an sich unerfreulich waren, sondern daß auch kein tieferer Gehalt darin erkannt werden konnte. Sie waren weder anzeigend, noch warnend, noch weniger erhebend oder trottend, alles sah wie ein Spiel böswilliger Geister aus, die nur Schrecken und Grauen erregen wollten. Indes übte auch hier Gewohnheit ihr Recht. Wir hatten uns fast an die unheimlichen Unsichtbaren gewöhnt, und da sie uns nicht weiter schädlich berührten, ließen wir sie meist unbeachtet. Wie viele Nachforschungen und Untersuchungen man auch vornahm, keine derselben brachte erklärende Resultate. Mit dem Tode der Mutter, der früh erfolgte, verstummte alles Unheimliche, als ob es Anzeichen dieses Trauerfalles habe sein sollen.«
    S. 111 Diese Träume, dieser gewissermaßen natürliche Magnetismus: Dazu gibt Charlotte folgenden Zusatz:
    »Die Hindeutung auf gewissermaßen natürlich-magnetische Träume, deren hier gedacht wird, möchte noch einige, wenn auch nicht erklärende, doch deutlicher machende Worte erfordern, über eine seltsame und gewiß seltene physiologische Stimmung, wie solche mir durch oft wiederholte, immer gleiche Erzählung bekannt worden ist, ohne Aufschluß erhalten zu haben oder geben zu können. Mein Vater erkrankte schwer und langwierig in
meiner frühesten Kindheit. Gegen alle Erwartung der Ärzte wurde er erhalten und gerettet durch eine schwere Operation, die ein sehr geschickter Wundarzt, der hinzugezogen wurde, verrichtete. Derselbe wurde nach erfolgter gänzlicher Genesung des Vaters von der Familie wie ein teurer Wohltäter geliebt und verehrt, und beide Häuser kamen in innige Verhältnisse, um so mehr, da groß und klein von gleichem Alter waren. Im nächsten Frühjahr wurde der erste Besuch in die benachbarte Stadt, zum Doktor und Regimentsarzt M., gemacht. Dieser kleine, fröhliche Ausflug war für uns alle ein wahres Fest. Schon beim Stillhalten des Wagens, bei dem Aussteigen, bei dem Eintritt in den Hausflur wurde mein Vater still und bestürzt, mehr noch beim Eintritt in die Wohnstube. Das M-sche Haus war alt und winkelig, man fand sich nicht gleich darin zurecht, und ein versteckter Gang führte in einen kleinen Garten, von den Kindern der Irrgarten genannt. Nach dem ersten Empfange sollten nun erst den Gästen ihre Zimmer angewiesen werden. Jetzt nahm der Gast den Hausherrn an den Arm, mit den Worten: »Nun will ich Sie führen.« Schweigend brachte er ihn erst in die Gastzimmer, dann durch alle Räumlichkeiten durch, vor dem Eintritt in jede Stube und Kammer die Bestimmung derselben bemerkend, und zuletzt auch kannte er den verdeckten Gartenweg. Fast genauer als im eigenen Hause kennt er hier jedes Möbel und gibt der erstaunten Gesellschaft folgenden Aufschluß: während seiner dreimonatigen schweren Krankheit habe ihn jeder matte Krankenschlummer in dies Haus gebracht; er habe in allen diesen Räumen so oft und so lange verweilt, daß er alles aufs genaueste kenne. Da er aber den Schauplatz seiner Träume nie gesehen habe, es also keine Erinnerungen sein konnten, welche in der kranken Einbildung wieder aufstiegen, so habe er es ganz natürlich für phantastische, kranke Traumbilder gehalten, ohne weiter darauf zu achten. Man möge
nun sein Erstaunen nachempfinden, wie er schon beim Stillhalten des Wagens, schon beim äußeren Anblick des Hauses, und immer mehr und mehr, seine Traumbilder verwirklicht sehe!
    Er mochte gern bei dieser sonderbaren Erscheinung seines inneren Sehvermögens verweilen und erzählte diese Erfahrung gern, und immer getreu dasselbe, so daß ich es

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