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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Der Pfad
    In der Tajga hatte ich einen wunderbaren Pfad. Ich hatte ihn selbst angelegt im Sommer, als ich mir Brennholz für den Winter besorgte. Um die Hütte herum gab es viel Reisig – konusförmige Lärchen, grau und wie aus Pappmaché, steckten im Sumpf wie Pfähle. Die Hütte stand auf einer Anhöhe, umringt von Krummholzbüschen mit grünen Nadelquasten – zum Herbst hin zogen die von Nüssen geschwollenen Zapfen die Zweige zum Boden. Durch dieses Krummholzdickicht führte der Pfad in den Sumpf, aber der Sumpf war nicht immer ein Sumpf gewesen – ein Wald wuchs dort, aber dann sind die Baumwurzeln vom Wasser verfault und die Bäume gestorben, vor langer, langer Zeit. Der lebendige Wald hat sich um den Fuß des Berges bis an den Bach zurückgezogen. Der Weg, den Automobile und Menschen nahmen, lag auf der anderen Seite der Anhöhe, weiter oben am Berghang.
    Die ersten Tage tat es mir leid, die fetten roten Maiglöckchen zu zertreten und die Iris, die mit ihren Blütenblättern und ihrem Muster aussahen wie riesige lila Schmetterlinge; die dicken blauen Riesenschneeglöckchen knackten unangenehm unter dem Fuß. Die Blüten hatten, so wie alle Blüten im Hohen Norden, keinen Duft; einmal ertappte ich mich bei einer automatischen Bewegung – du pflückst einen Strauß und führst ihn an die Nase. Doch dann habe ich es mir abgewöhnt. Am Morgen sah ich mir an, was über Nacht auf meinem Pfad passiert war – hier hat sich ein Maiglöckchen aufgerichtet, ein gestern von meinem Stiefel zerdrücktes, es ist zur Seite ausgewichen, aber doch wieder aufgelebt. Ein anderes Maiglöckchen ist schon für immer zerdrückt und liegt da wie ein umgekippter Telegrafenmast mit Porzellan-Isolatoren, und die zerrissenen Spinnweben hängen daran wie zerfaserte Leitungen.
    Und dann war der Pfad ausgetreten, und ich nahm nicht mehr wahr, dass sich mir Krummholzzweige in den Weg legten, die, die mir ins Gesicht schlugen, brach ich ab und nahm die abgebrochene Stelle nicht mehr wahr. Zu beiden Seiten des Pfades standen junge Lärchen von etwa hundert Jahren – ich sah sie grün werden, sah sie die feinen Nadeln auf den Pfad streuen. Der Pfad wurde von Tag zu Tag dunkler und war schließlich ein gewöhnlicher dunkelgrauer Bergpfad. Niemand außer mir benutzte ihn. Blaue Eichhörnchen hüpften darauf, und die Spuren der ägyptischen Keilschrift der Rebhühner habe ich immer wieder gefunden, auch eine dreieckige Hasenspur kam vor, aber Vögel und Wildtiere zählen ja nicht.
    Ich benutzte meinen Pfad fast drei Jahre lang. Darauf ließen sich gut Gedichte schreiben. Wenn ich, zurückgekehrt von einer Reise, wieder darauf ausschritt, stellte sich auf diesem Pfad ganz gewiss eine Strophe ein. Ich hatte mich an den Pfad gewöhnt, hielt mich dort auf wie in einem Arbeitszimmer im Wald. Ich erinnere mich, wie schon vor dem Winter Kälte und Eis den Matsch auf dem Pfad erfassten, und der Matsch sah verzuckert aus wie Marmelade. In zwei Herbsten ging ich vor dem Schnee auf diesen Pfad – um eine tiefe Spur zu hinterlassen, die vor meinen Augen für den ganzen Winter erstarrt. Und im Frühjahr, wenn der Schnee getaut war, sah ich meine Zeichen vom vorigen Jahr, trat in die alten Spuren, und Gedichte schrieben sich wieder leicht. Im Winter stand mein Kabinett natürlich leer: Der Frost lässt einen nicht denken, schreiben kann man nur im Warmen. Im Sommer konnte ich alles herzählen, und alles war viel bunter als im Winter auf diesem Zauberpfad – das Krummholz und die Lärchen und die Heckenrosenbüsche brachten stets ein Gedicht, und wenn mir nicht fremde Gedichte von entsprechender Stimmung einfielen, dann murmelte ich ein eigenes, das ich, zurück in der Hütte, aufschrieb.
    Im dritten Sommer lief über meinen Pfad ein Mensch. Ich war gerade nicht zu Hause, ich weiß nicht, ob es ein umherwandernder Geologe war oder ein Bergbriefträger oder ein Jäger – der Mensch hinterließ die Spuren seiner schweren Stiefel. Von da an konnte ich auf diesem Pfad keine Gedichte mehr schreiben. Die fremde Spur war im Frühjahr hinterlassen worden, und den ganzen Sommer schrieb ich auf diesem Pfad keine einzige Zeile. Zum Winter wurde ich an einen anderen Ort versetzt, und es tat mir auch nicht leid – der Pfad war hoffnungslos verdorben.
    Manches Mal habe ich versucht, über diesen Pfad ein Gedicht zu schreiben, doch es ist mir trotz allem niemals gelungen.
    <1967>

Graphit
    Womit werden Todesurteile unterschrieben: mit Kopierstift oder Passtusche, mit

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