Todesschach
Er sprang über den Graben, und von dieser Sekunde an schwebte er in akuter Lebensgefahr.
Ohne das geringste Geräusch zu verursachen, kroch er auf allen vieren weiter und schob dabei seine einzige Waffe, die lange Lanze, vor sich her. Die Büsche gaben eine hervorragende Deckung ab, aber sie boten gleichzeitig seinem Gegner ein gutes Versteck.
Seine Augen waren scharf und gut. Ohne Schwierigkeiten entdeckte er auf dem Hügel vor sich, etwa fünfzig Meter entfernt, das Banner des schwarzen Läufers. Seine Hand fuhr zur Brust, als wolle er sich davon überzeugen, daß sein Banner – das des weißen Bauern – noch vorhanden war.
Rechts war ein Geräusch.
Er zuckte zusammen und glitt unter die schützenden Zweige eines dicht belaubten Busches. Der Graben lag bereits zehn Meter hinter ihm, und damit war er schon tief im Gebiet des Gegners, der sein Eindringen vielleicht bemerkt hatte – vielleicht aber auch nicht. Es kam darauf an, ob man gewisse Dinge vorausberechnen konnte.
Bewegungslos blieb er liegen. Sein weißer Umhang störte ihn, aber er durfte ihn nicht ablegen. Das war gegen die Spielregeln, die über Leben und Tod entschieden.
Wieder ein leises Knacken, als rutsche jemand über einen trockenen Ast. Es kam von rechts, aus einer Entfernung von zwanzig oder dreißig Metern. Es mußte für den schwarzen Läufer ziemlich schwer sein, den hundert Meter langen Trenngraben seines Gebietes erfolgreich zu überwachen, und wenn er das Eindringen einer fremden Figur nicht rechtzeitig bemerkte, konnte das seinen schnellen Tod zur Folge haben.
Grams war sich nicht sicher, ob sein Eindringen in das Feld des feindlichen Läufers unbemerkt geblieben war. Wenn ja, dann besaß er gegenüber der besseren Waffe des anderen den Vorteil der Überraschung.
Denn der Läufer verfügte über ein Gewehr.
Grams schob sich ein Stück weiter, geräuschlos wie ein anschleichendes Raubtier, das seine Beute nicht verjagen will. Wenn er Glück hatte und in den Rücken des Läufers gelangte, konnte er einen weiteren Vorteil für sich verbuchen.
Wahrscheinlich den entscheidenden Vorteil dieses Zuges.
Wieder knackte es rechts. Grams hielt die Luft an und versuchte, noch mehr zu hören, aber es blieb wieder ruhig und still. Er sah nach oben. Der Himmel war tiefblau und wolkenlos. Irgendwo blitzte ein winziger, silberner Punkt, als die Sonnenstrahlen im richtigen Winkel reflektiert wurden.
Der Mann, der da oben vor seinen Kontrollen saß und die Geschicke der ihm anvertrauten Menschen leitete, war wie ein Gott. Und er befand sich nicht in Gefahr, so wie Grams jetzt.
»Verdammt!« sagte Grams zu sich und umklammerte seine Lanze. »Verdammt! Eines Tages werde ich es erreichen, dann sitze ich da oben an seiner Stelle!«
Er hörte jäh auf zu denken, als sein Unterbewußtsein die Kontrolle übernahm und seinen kämpferischen Instinkt aktivierte. Das hatte mit Denken nichts mehr zu tun, nur noch mit nacktem Überleben.
Der Läufer näherte sich von rechts, scheinbar sorgloser jetzt.
Grams lächelte grimmig, als er mit schnellen und vorsichtigen Bewegungen eine Lichtung überquerte und im dichten Unterholz eines Niederwäldchens verschwand. Die Lanze war lästig, und er bereute, kein Messer gewählt zu haben. Dafür konnte sie geworfen werden, und Grams wußte, daß er leicht vierzig Meter schaffte, wenn das Ziel auf eine solche Entfernung hin auch unsicher wurde.
Er würde das Risiko auf keinen Fall eingehen, denn unbewaffnet hatte er keine Chance mehr. Aber er hatte auch keine Chance, wenn ihn der Läufer zu früh entdeckte, denn mit einem Gewehr konnte er ihn selbst auf hundert Meter Distanz mit Leichtigkeit erledigen, ohne selbst etwas befürchten zu müssen.
Er lag am Rand der Lichtung, tief in eine Mulde geduckt, und wagte kaum zu atmen, als er den Läufer erblickte. Der schwarze Umhang blieb an einem Zweig hängen, und für eine Sekunde wurde der Läufer abgelenkt. Aber dann tauchte er mit einem Satz im Gelände jenseits der Lichtung unter und war verschwunden.
Der Mann war Grams bekannt vorgekommen, was durchaus möglich sein konnte. Grams war nicht der einzige, der schon mehrere Spiele überlebt hatte.
Er blieb liegen, denn nun kannte er die Richtung, in der sich sein Gegner aufhielt. Er verfolgte die gelegentlichen Geräusche und stellte befriedigt fest, daß sie wieder näherkamen. Der Läufer hatte nur seinen Trenngraben kontrolliert. Vielleicht hatte er auch die Spuren gefunden und wußte nun, daß er nicht mehr
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