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Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Titel: Briefe aus dem Gefängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Luxemburg
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stimmte dem bei, aber wir konnten absolut nicht herausfinden, wer's war. Denken Sie, denselben Klageruf hörte ich plötzlich
hier
in der Nähe vor einigen Tagen in der Frühe, so daß mir das Herz vor Ungeduld pochte, endlich zu erfahren, wer das sei. Ich hatte keine Ruhe, bis ich's heute herausfand: es ist kein Wasservogel, sondern der
Wendehals
, eine graue Spechtart. Er ist nur ein wenig größer als der Sperling und hat seinen Namen daher, weil er in Gefahr die Feinde durch komische Gebärden und Kopfverrenkungen zu schrecken sucht. Er lebt nur von Ameisen, die er an seiner klebrigen Zunge ansammelt, wie der Ameisenbär. Die Spanier nennen ihn deshalb Hormiguero – der Ameisenvogel. Mörike hat übrigens auf diesen Vogel ein sehr hübsches Scherzgedicht gemacht, das Hugo Wolfauch vertont hat. Mir ist, als hätte ich ein Geschenk gekriegt, seit ich weiß, wer der Vogel mit der klagenden Stimme ist. Vielleicht schreiben Sie es auch Karl, es würde ihn freuen.
    Was ich lese? Hauptsächlich Naturwissenschaftliches: Pflanzengeographie und Tiergeographie. Gestern las ich gerade über die Ursache des Schwindens der Singvögel in Deutschland: es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden – Schritt für Schritt vernichten. Mir war es so sehr weh, als ich das las. Nicht um den Gesang für die Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, daß ich weinen mußte. Es erinnerte mich an ein russisches Buch von Prof. Sieber über den Untergang der Rothäute in Nordamerika, das ich noch in Zürich gelesen habe: sie werden genau so Schritt für Schritt durch die Kulturmenschen von ihrem Boden verdrängt und einem stillen grausamen Untergang preisgegeben.
    Aber ich bin ja natürlich krank, daß mich jetzt alles so tief erschüttert. Oder wissen Sie? ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgend ein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen, ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: ineiner Straßenschlacht oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den »Genossen«. Und nicht etwa, weil ich in der Natur, wie so viele, innerlich bankerotte Politiker ein Refugium, ein Ausruhen finde. Im Gegenteil, ich finde auch in der Natur auf Schritt und Tritt so viel Grausames, daß ich sehr leide. Denken Sie z. B., daß mir das folgende kleine Erlebnis nicht aus dem Sinn kommt. Vorigen Frühling ging ich in meiner stillen leeren Straße von einem Feldspaziergang heim, als mir auf dem Boden ein dunkler kleiner Fleck auffiel. Ich bückte mich und sah ein lautloses Trauerspiel: ein großer Mistkäfer lag auf dem Rücken und wehrte sich hilflos mit den Beinen, während ein ganzer Haufen winziger Ameisen auf ihm herumwimmelten und ihn – bei lebendigem Leibe verzehrten! Mich schauerte es, ich nahm mein Taschentuch heraus und fing an, die brutalen Bestien wegzujagen. Sie waren aber so frech und hartnäckig, daß ich einen langen Kampf mit ihnen ausfechten mußte, und als ich endlich den armen Dulder befreit und weit aufs Gras gelegt hatte, waren ihm schon zwei Beine abgefressen.... Ich lief fort mit dem peinigenden Gefühl, daß ich ihm schließlich eine sehr zweifelhafte Wohltat erwiesen habe.
    Jetzt gibt es schon so lange Dämmerung abends. Wie liebe ich sonst diese Stunde! In Südende hatte ich viele Amseln, hier sehe und höre ich jetzt keine. Den ganzen Winter fütterte ich ein Paar und nun ist es verschwunden. In Südende pflegte ich um diese Zeit abends in der Straße herumzuschlendern; es ist so schön, wenn noch im letzten violetten Tageslicht plötzlich die rosigen Gasflammen an den Laternen aufzucken und noch so fremdin der Dämmerung aussehen, als schämten sie sich selbst ein wenig. Durch die Straße huscht dann geschäftig die undeutliche Gestalt irgend einer verspäteten Portierfrau oder eines Dienstmädchens, die noch schnell zum Bäcker oder Krämer laufen, um etwas zu holen. Die Schusterkinder, mit denen ich befreundet bin, pflegten noch in der

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