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Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Briefe aus dem Gefängnis (German Edition)

Titel: Briefe aus dem Gefängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Luxemburg
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und die Gattinnen Nahrung zu suchen. Auch nisten sie wohl mehr draußen im Feld oder auf größeren Bäumen, wenigstens ist es jetzt in meinem Gärtlein still; nur hie und da schlägt kurz die Nachtigall, oder der Grünling macht seine klopfenden Tritte, oder spät abends schmettert noch einmal der Buchfink, meine Meisen lassen sich gar nicht mehr blicken. Nur einen kurzen Gruß bekam ich plötzlich gestern von weitem von einer Blaumeise, und das hatmich ganz erschüttert. Die Blaumeise ist nämlich nicht wie die Kohlmeise Standvogel, sondern sie kommt erst Ende März wieder zu uns. Sie hielt sich auch zuerst immer in der Nähe meiner Fenster, kam mit den anderen zum Fenster und sang fleißig ihr drolliges »Zizi bä«, aber so ganz gedehnt, daß es wie ungezogenes Kindernecken klang. Ich mußte jedesmal lachen und ihr ebenso antworten. Dann verschwand sie anfangs Mai mit den anderen, um irgendwo draußen zu brüten. Ich sah und hörte sie wochenlang nicht mehr. Gestern höre ich plötzlich von drüben über die Mauer, die unseren Hof von einem anderen Gefängnisterrain trennt, den bekannten Gruß, aber so ganz verändert, nur ganz kurz und eilig dreimal hintereinander »Zizi bä – Zizi bä – Zizi bä«, dann wurde es still. Mir zuckte das Herz zusammen, so viel lag in diesem eiligen, fernen Ruf, eine ganze kleine Vogelgeschichte. Das war nämlich eine Erinnerung der Blaumeise an die schöne Zeit des Liebeswerbens im Vorfrühling, wo man den ganzen Tag sang und lockte; jetzt aber heißt es den ganzen Tag fliegen und Mücken sammeln für sich und die Familie, also nur kurz eine Reminiszenz: »Ich habe keine Zeit – ach ja, es war schön – Frühling ist bald zu Ende – Zizi bä – Zizi bä – Zizi bä –! – – –« Glauben Sie mir, Sonjuscha, daß mich ein solcher kleiner Vogelruf, in dem so viel Ausdruck liegt, tief ergreifen kann. Meine Mutter, die nebst Schiller die Bibel für der höchsten Weisheit Quell hielt, glaubte steif und fest, daß König Salomo die Sprache der Vögel verstand. Ich lächelte damals mit der ganzen Überlegenheit meiner 14 Jahre und einer modernen naturwissenschaftlichen Bildung über diese mütterliche Naivität. Jetzt bin ich selbst wie König Salomo: ich verstehe auch die Sprache der Vögel und der Tiere. Natürlich nicht, als ob sie menschliche Worte gebrauchten, sondern ich verstehe die verschiedensten Nuancen undEmpfindungen, die sie in ihre Laute legen. Nur dem rohen Ohr eines gleichgültigen Menschen ist ein Vogelgesang immer ein und dasselbe. Wenn man die Tiere liebt und für sie Verständnis hat, findet man große Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, eine ganze Sprache. Auch das allgemeine Verstummen jetzt nach dem Lärm des Vorfrühlings, und ich weiß, wenn ich noch im Herbst hier bin, was aller Wahrscheinlichkeit nach der Fall sein wird, dann werden alle meine Freunde wieder zurückkehren und an meinem Fenster Futter suchen; ich freue mich schon jetzt auf die eine Kohlmeise, mit der ich besonders befreundet bin.
    Sonjuscha, Sie sind erbittert über meine lange Haft und fragen: »Wie kommt es, daß Menschen über andere Menschen entscheiden dürfen. Wozu ist das alles?« Verzeihen Sie, aber ich mußte beim Lesen laut herauslachen. Bei Dostojewski, in den Brüdern Karamasoff, gibt es eine Madame Chochlakowa, die genau solche Fragen zu stellen pflegte, wobei sie ratlos von einem zum andern in der Gesellschaft herumblickte, ehe aber auch nur einer zu antworten versuchte, schon auf etwas anderes herübersprang. Mein Vöglein, die ganze Kulturgeschichte der Menschheit, die nach bescheidenen Schätzungen einige zwanzig Jahrtausende dauert, basiert auf der »Entscheidung von Menschen über andere Menschen«, was in den materiellen Lebensbedingungen tiefe Wurzeln hat. Erst eine weitere qualvolle Entwicklung vermag dies zu ändern, wir sind ja gerade jetzt Zeugen einer dieser qualvollen Kapitel, und Sie fragen, wozu das Alles? »Wozu« – – ist überhaupt kein Begriff für die Gesamtheit des Lebens und seine Formen. Wozu gibt es Blaumeisen auf der Welt? Ich weiß es wirklich nicht, aber ich freue mich, daß es welche gibt und empfinde als süßen Trost, wenn mir plötzlich über die Mauer ein eiliges Zizi bä aus der Ferne herübertönt.
    Sie überschätzen übrigens meine »Abgeklärtheit«. Mein inneres Gleichgewicht und meine Glückseligkeit können leider schon beim leisesten Schatten, der auf mich fällt, aus den Fugen gehen, und ich leide dann unaussprechlich, nur

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