1470 - Der Wechselbalg
Ob Stadt, ob Land. Das Unwetter ließ nichts aus. Immer wieder erfüllten krachende Donnerschläge die Luft, als wollten sie das zerstören, was sich die Menschen aufgebaut hatten.
In den Städten heulten die Sirenen von Feuerwehr und Polizei. Es gab Einschläge, aber es wurden auch Bäume geknickt, als wären sie nichts anderes als gewaltige Streichhölzer. Wer nicht unbedingt fahren musste, blieb im Haus, und die wenigen Fahrzeuge, die sich in den Zentren der Unwetter befanden, waren von ihren Lenkern angehalten worden, um nicht weiter in diese Hölle hineinfahren zu müssen.
Es befand sich kaum ein Lebewesen im Freien. Die Menschen hatten sich zurückgezogen. Die Tiere hatten sich verkrochen, alle wollten das Ende des Unwetters abwarten.
Und doch gab es eine Gestalt, die sich durch die Regenmassen kämpfte. Es war ein seltsames Wesen, das hin und wieder mit langen Schritten über den nassen weichen Boden lief und sich dann, wenn sich die Gelegenheit bot, in die Luft erhob, was ihm nicht leicht fiel, denn seine Flügel waren durch das Wasser schwer geworden.
Ein noch junger Mensch. Fast ein Kind. Auf dem Rücken wuchsen Flügel wie bei einem großen Vogel.
Aber es war kein Vogel, der sich da durch das Unwetter kämpfte.
Der fast nackte Oberkörper war den Regenmassen ausgesetzt. Die Tropfen prasselten wie schwere Hagelkörner auf ihn nieder. Immer dann, wenn der Junge seine Flügel bewegte, um in die Höhe zu starten, wurde er durch die Gewalt des fallenden Wassers wieder zu Boden gedrückt.
Der Junge gab nicht auf. Er kämpfte sich weiter voran. Er wusste nicht, wie lange das Unwetter andauern würde, aber er hatte ein Ziel. Er musste ein Versteck finden, um seinen Verfolgern zu entkommen. Gelang ihm das nicht, war er tot.
Der helle Körper schimmerte wie Metall auf, wenn der Junge an eine hellere Stelle geriet. Obwohl er ein so ungewöhnliches Wesen war, reagierte er sehr menschlich. Er fror, er zitterte, er hatte Angst, und manch starke Böschleuderte ihn zur Seite, sodass er immer wieder einen neuen Anlauf nehmen musste.
Es war zu gefährlich, weiterhin durch den Wald zu laufen. Der Junge dachte noch jetzt mit Schrecken daran, wie der Blitz nicht weit von ihm entfernt in einen Baum eingeschlagen und ihn gespalten hatte. Er hatte sogar für einen Moment kleine Flammen tanzen sehen, die rasch wieder vom Regen gelöscht worden waren, aber es war für ihn Warnung genug gewesen. Er hatte den Wald verlassen und war über das freie Feld gelaufen.
Jetzt auch noch.
Aber immer wieder mit dem Bemühen verbunden, sich in die Luft zu erheben. Seine Flügel waren unter dem prasselnden Regen nur schwer zu bewegen. Er hob sie immer wieder an und versuchte, durch das Fliegen schneller voranzukommen.
Es klappte nicht.
Der Regen war zu heftig, und so musste sich die fast nackte Gestalt weiter zu Fuß durch diese Hölle kämpfen. Der Junge lief einfach geradeaus. Er konnte nur auf sein Glück vertrauen. Irgendwann würde er auf eine menschliche Ansiedlung treffen und dort für eine Weile Schutz finden. Möglicherweise hätte er auch längst eine entdeckt, doch nicht in dieser Suppe aus Dunst und Wasser.
Weiter! Nicht aufgeben. Keine Pause einlegen.
Es gab auch kein Versteck, das ihm Schutz geboten hätte. Er musste durch. Das Wasser peitschte auf ihn nieder. Der Boden konnte die Massen nicht fassen. Da sickerte nichts ein. Das Wasser gurgelte an ihm vorbei, weil es leicht bergab ging. So wurde er von den kleinen Strömen begleitet, deren Schmatzen und Gurgeln er hörte.
Manchmal schaute er zum Himmel. Bisher hatten ihn die Blicke nur entmutigt, aber jetzt, als er kurz anhielt, erlebte er so etwas wie einen Hoffnungsschimmer. Weit im Westen erkannte er den hellen Streifen. Dort war eine Macht dabei, das Unwetter zur Seite zu schieben und wieder für einen klaren Himmel zu sorgen.
Der Junge lächelte.
Die Entdeckung hatte ihm Kraft verliehen. Er glaubte auch, den Regen nicht mehr so stark aufprallen zu spüren und sah für sich den Zeitpunkt gekommen, mal wieder einen Versuch zu starten.
Er nahm einen Schritt Anlauf. Als er einen günstigen Startpunkt erreicht hatte, bewegte er seine Flügel, die nass und sehr schwer waren, weil die Federn nicht eingefettet waren wie bei den Vögeln. Sie hatten sich mit Wasser voll gesogen, und der Junge schrie vor Wut auf. Er machte trotzdem weiter. Wenn er erst mal einen bestimmten Punkt überschritten hatte, würde alles besser laufen.
Er musste sich nicht gegen den Wind
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