Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
Vom Netzwerk:
selbst kamen mit dem Leben davon, wurden aber gefasst und eingekerkert. »Es ist zu einem Rollentausch gekommen im Laufe dieser Verhandlung«, ruft Castro, der sich selbst verteidigt, vor Gericht triumphierend aus. »Die Ankläger wurden zu Angeklagten und die Angeklagten zu Anklägern! Es ist nicht entscheidend, dass hier einige aufrechte Leute verurteilt werden, entscheidend ist, dass das Volk schon morgen den Diktator und seine grausamen Schergen verurteilen wird. Kuba sollte ein Bollwerk der Freiheit und nicht ein schändliches Kettenglied des Despotismus sein! Was mich selbst betrifft, so weiß ich, dass der Kerker hart sein wird, verschärft durch Drohungen, durch gemeine und feige Wut. Ich fürchte das nicht, wie ich den Zorn des elenden Tyrannen nicht fürchte. Verurteilt mich, das hat nichts zu bedeuten. Die Geschichte wird mich freisprechen! «
    Castro wird zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, im Rahmen einer Generalamnestie kommt er schon nach zwei Jahren frei und geht in den Untergrund. Am 1. Januar 1959 flieht Diktator Fulgencio Batista, die Guerilleros haben gesiegt. Aber: »La historia me absolverá«? Ob Castro, der sich schon bald zum Autokraten zu wandeln begonnen hat und viele seiner Mitstreiter verriet, von der Geschichte freigesprochen wird, bleibt offen. Vielleicht für seinen Aufstand, aber auch für seine spätere Repression? Darüber steht das endgültige Urteil noch aus.

    Und nun also Michail Borissowitsch Chodorkowski. Der Ruhige. Der Nachdenkliche. Der sich die Brille putzt, bevor er spricht und so buddhistisch gelassen wirkt, als sei er ein jüngerer Bruder des Dalai Lama. Der fast schüchtern zu seinen Verwandten und Freunden hinüberwinkt, die wie an jedem Verhandlungstag in den kleinen, gerade einmal vier Dutzend Zuhörer fassenden Saal gekommen sind. Der Mann, der nicht so geschliffen formulieren kann wie Zola bei seiner Anklage und nicht so brachial argumentieren wie Castro bei seiner Abrechnung. Der eher appelliert als anklagt oder abrechnet, und immer höflich bleibt gegenüber dem »verehrten Gericht«. Der zum Zeitpunkt seines Moskauer Schlussworts schon eine lange Leidenszeit hinter sich hat: Der Chef des erfolgreichen Erdöl-Konzerns Jukos und reichste Mann Russlands hat, in einem höchst obskuren Prozess 2005 wegen schweren Betrugs verurteilt, sieben Jahre im Gefängnis abgesessen, größtenteils im sibirischen Tschita. Er überstand Messerattacken von Mithäftlingen und einen Hungerstreik. Im Oktober 2011 spätestens hätte man ihn freilassen müssen. Nun ist ein zweites Gerichtsverfahren gegen ihn angestrengt worden, diesmal wegen Unterschlagung und Geldwäsche. Es sieht nicht gut aus für seine Freiheit und eine Rückkehr in ein »normales« Leben.
    Und doch hält der Angeklagte Chodorkowski am 2. November 2010 in Moskau eine Rede, die wie jene von Zola und Castro vielleicht noch in Jahrzehnten zitiert werden wird, die historisch werden könnte. Das Plädoyer steht am Beginn der in diesem Buch erstmals in deutscher Sprache vorliegenden Originaldokumente von Russlands berühmtestem Häftling. Es ist ein politisches Manifest.

    Mit seinem juristischen Fall gibt sich Chodorkowski gar nicht mehr ab: »Alle, die etwas davon verstehen wollten, haben längst alles verstanden. Keiner erwartet ernsthaft ein Schuldeingeständnis von mir.« Stattdessen macht er in ebenso schlichten wie scharfen Worten klar, worum es wirklich geht: um die Hoffnung, Russland trotz aller Widerstände der Regierenden den Übergang in eine »entwickelte Zivilgesellschaft, frei von Beamtenwillkür, Korruption, Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit« zu ermöglichen und den »Menschenrechten«, die »grundsätzlich keine Geltung« hätten, Gewicht zu verschaffen. Der Sträfling sieht sich als »Patriot«. Er gibt sich, trotz seiner leisen und wenig revolutionären Töne in der Sache sehr selbstbewusst. Er weiß um die Bedeutung der Causa Chodorkowski weit über den kleinen Moskauer Gerichtssaal hinaus. »Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Millionen Augen in unserem Land und auf der ganzen Welt verfolgen den Ausgang des Prozesses.« Er endet mit einem dramatischen Appell an »Euer Ehren«, den Richter Viktor Danilkin, dem er – was für eine ungeheure Provokation in einem russischen Gericht – fast mitleidig »Mut« wünscht.
    Chodorkowskis Skepsis ist augenfällig. Es ist unverkennbar, dass sich seine Worte über den Kopf des Justizbeamten hinweg an einen ganz anderen richten, von dem er annimmt, dass er

Weitere Kostenlose Bücher