Briefe aus dem Gefaengnis
Kollegen zu einem Symbol des Kampfes gegen autoritäre bürokratische Willkür gemacht und mir quasi das Recht gegeben, mich direkt an die Menschen zu wenden.
Seitdem ich begriffen habe, dass ich auf absehbare Zeit nicht freikommen werde, ist die Angst von mir abgefallen, und ich sage, was ich denke. Zu meiner Überraschung stießen meine Gedanken bei den russischen Intellektuellen auf Anklang. Und so wurden die Gefängnismauern auf einmal zu einem gewaltigen Resonanzraum. 80 bis 85 Prozent der Hörer von »Echo Moskwy«, 3 des einzigen liberalen Rundfunksenders in unserem Land, stimmen mit mir überein.
Sie werden in diesem Buch einen Menschen vorfinden, der sich selbst sehr verändert hat und in einem Land lebt, das ebenfalls im Wandel begriffen ist. Und Sie werden erfahren, wie ein großer Teil der gebildeten Bürger Russlands die Wirklichkeit erlebt.
Ich möchte der deutschen Öffentlichkeit von ganzem Herzen danken für die Anteilnahme und Unterstützung, die sie mir und meinen Kollegen entgegenbringt. Wir haben ein gemeinsames Ziel – ein europäisches, friedliches, demokratisches und modernes Russland.
Schlussplädoyer vom 2. November 2010
Verehrtes Gericht!
Wenn ich zurückschaue, erinnere ich mich an den Oktober 2003. Meinen letzten Tag in Freiheit. Ein paar Monate nach der Verhaftung sagte man mir, Präsident Putin habe beschlossen, ich solle acht Jahre lang »die Schleimsuppe« der Gefängnisse »löffeln«. Damals fiel es schwer, das zu glauben.
Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Sieben Jahre sind eine sehr lange Zeit, besonders im Gefängnis. Wir alle hatten viel Zeit, das ein oder andere neu zu bewerten oder zu interpretieren.
Das Auftreten der Staatsanwälte nach dem Motto »Brummen Sie ihnen 14 Jahre auf« und »Pfeifen Sie auf die früheren Gerichtsurteile«, bedeutet wohl: Man hat in diesen Jahren noch mehr Angst vor mir bekommen und achtet das Gesetz noch weniger.
Beim ersten Mal haben sie wenigstens versucht, hinderliche juristische Verordnungen vorher aufzuheben. Diesmal geht es auch so, zumal nicht nur zwei, sondern mehr als sechzig Verordnungen aufgehoben werden müssten.
Ich möchte jetzt nicht auf die juristische Seite des Falls zurückkommen. Alle, die etwas davon verstehen wollten, haben längst alles verstanden. Keiner erwartet ernstlich ein Schuldeingeständnis von mir. Es würde heute kaum einer
glauben, wenn ich sagte, das ganze Öl, das mein Konzern gefördert hat, sei von mir geraubt worden.
Aber genauso wenig glaubt jemand, dass ein Moskauer Gericht im Fall Jukos auf Freispruch erkennen könnte.
Trotzdem möchte ich meiner Hoffnung darauf Ausdruck geben. Hoffnung ist das Wichtigste im Leben.
Ich erinnere mich an die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ich war damals 25. Unser Land lebte in der Hoffnung auf Freiheit und Glück für uns und unsere Kinder.
Zum Teil erfüllten sich die Hoffnungen, zum Teil nicht. Dafür dass sie sich nicht dauerhaft und nicht für alle erfüllten, trägt wohl unsere Generation die Verantwortung, darunter auch ich.
Ich erinnere mich auch an das Ende des vorigen Jahrzehnts. Ich war damals 35. Wir bauten den besten Ölkonzern Russlands auf. Wir errichteten Sport- und Kulturzentren, leisteten Pionierarbeit, erschlossen Dutzende neuer Fördermöglichkeiten, nahmen die Ausbeutung der ostsibirischen Reserven in Angriff und führten neue Technologien ein. Taten eigentlich all das, wessen sich Rosneft, der Konzern, der Jukos übernahm, heute rühmt.
Dank der auch durch unter Verdienst beträchtlich gestiegenen Ölförderung konnte unser Land die günstige Konjunktur für Öl ausnutzen. Wir hatten Hoffnung, dass die Zeit der Erschütterungen und Wirren endlich vorbei sei, dass wir in stabilen Verhältnissen, die enorme Anstrengungen und Opfer gekostet hatten, in Ruhe ein neues Leben und eine große Zukunft für unser Land würden aufbauen können.
Leider hat sich auch diese Hoffnung bisher nicht erfüllt. Die Stabilität wich zusehends der Stagnation. Die Gesellschaft
erstarrte. Obwohl die Hoffnung noch lebendig ist. Selbst hier im Saal des Chamownitscheski-Gerichts ist sie lebendig, jetzt, wo ich schon beinahe fünfzig bin.
Mit dem Regierungsantritt des neuen Präsidenten, und das ist schon mehr als zwei Jahre her, schöpften viele meiner Mitbürger wieder Hoffnung. Hoffnung, Russland werde doch noch ein modernes Land mit einer entwickelten Zivilgesellschaft. Frei von Beamtenwillkür, Korruption, Ungerechtigkeit und
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