Briefe in die chinesische Vergangenheit
ich Dir im letzten Brief schon mitgeteilt.
Ich richtete mich auf – ganz benommen, sagte ich schon –, stellte meine Reisetasche ab und schaute mich um. Nach dem Plan für meine ersten Schritte in der Zukunft, den wir so herrlich ausgearbeitet haben (ich kann Dir gleich sagen: er hat sich als völlig undurchführbar erwiesen), sollte ich mich zunächst zu der Stelle begeben, wo Dein Gartenhaus steht, um den erwähnten Stein zu suchen, den wir neben dem Eingang in den Boden haben rammen lassen. Ich kam gar nicht so weit, denn von dort, wo damals – Dein »jetzt« – das Haus der Jagdaufseherswitwe des Mandarins Mawang stand, näherte sich, erschrick nicht, ein Riese. Er war ganz in komische graue Kleider gehüllt, die völlig unnatürlich waren – auch darauf werde ich später noch zurückkommen –, hatte eine enorm ungesunde bräunliche Gesichtsfarbe und, als allerauffallendstes, eine riesige, eine unvorstellbar große Nase; mir schien: seine Nase mache die Hälfte des Körpervolumens aus. Er blickte aber, wie mir schien, nicht unfreundlich. Er wollte über die Brücke gehen, blieb jedoch stehen, als er mich sah. Ich kann das Mienenspiel unserer Nachfahren noch nicht richtig deuten. (Sie sind uns so unähnlich, daß ich mich frage: sind sie es wirklich? Wirklich unsere Nachfahren?) Ich lerne auch erst, ihre Gesichter zu unterscheiden. Das ist sehr schwer, denn sie sehen alle gleich aus und haben alle gleich große Nasen. Daß jener Riese – oder jene Riesin, auch das Geschlecht ist kaum zu unterscheiden –, der erste Mensch, den ich nach meiner Reise von tausend Jahren sah, keine drohende Haltung einnahm, glaubte ich aber erkennen zu können. Vermutlich war er so erstaunt über meinen Anblick wie ich über seinen. Ich nahm meine Reisetasche in die Hand, ging auf ihn zu, verbeugte mich und fragte:
»Hoher Fremdling oder hohe Fremdlingin! Ich, der unwürdige und weniger als nichtsnutzige Kwan der vierthöchsten Rangklasse Kao-tai, Präfekt der kaiserlichen Dichtergilde ›Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände‹, entbiete meine Hochachtung vor dir und deinen Ahnen.« Wer weiß, dachte ich, ob ich nicht selber unter diesen Ahnen bin. »Kannst du mir sagen, ob hinter jener Mauer einst das Gartenhaus meines Freundes, des erhabenen Mandarins Dji-gu, stand?«
Der Riese verstand aber offensichtlich nichts von meiner Rede. Er sagte etwas in einer mir völlig unverständlichen Sprache, das heißt: er brüllte mit so tiefer Stimme, daß es mich fast über das Brückengeländer warf, und ich hätte unverzüglich die Flucht ergriffen, wenn sich nicht inzwischen eine größere Anzahl weiterer Riesen angesammelt hätte, die mich alle anstarrten. Ich war ganz verzweifelt. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mich sofort wieder in die Vergangenheit – in Deine und meine Gegenwart – verflüchtigt. Aber das geht ja nicht. Ich muß ausharren. Es ist auch gut so, denn das ist der Zweck meiner Reise. So umklammerte ich meine Reisetasche und wandte mich fragend an alle, ob nicht einer unter ihnen sei, der die Sprache der Menschen verstünde.
Es war keiner dabei.
Wenn man bedenkt, daß wir ohne Schwierigkeiten Bücher lesen können, die zweitausend Jahre alt sind, sich die Sprache bis auf uns von den ältesten Zeiten an nicht stark verändert hat, muß man sich wundern, daß sich die Sprache der Menschen in den nächsten tausend Jahren, die uns bevorstehen, so wandelt, daß ich mich mit keinem Wort mehr verständigen kann. Sollten das hier, diese Riesen mit ihrer brüllenden Sprache, gar keine Enkel von uns sein? Haben die Barbaren des Nordens es fertiggebracht, die Große Mauer zu überwinden? Haben sie unser Land überschwemmt, uns ausgerottet? Bewohnen sie nun unser Reich? Dagegen spricht, daß die Barbaren des Nordens ein zwar kräftiger und zäher, aber eher kleinerer Menschenschlag als wir sind. Nun – vielleicht gelingt es mir, auch da noch dahinterzukommen.
Inzwischen – aber auch davon später – habe ich ein paar Wörter der Zukunftssprache erlernt. Sie ist sehr schwer.
Die Großnasen und Riesen, die mich umringten – beruhige Dich: es sind keine Riesen; alle Leute »hier« sind größer, als wir es gewohnt sind –, schrien mit furchtbaren lauten und tiefen Stimmen durcheinander. Hättest du die Szene in einem Traum erlebt, hättest Du gemeint, in einen Haufen streitender Dämonen geraten zu sein. Offensichtlich redeten sie über mich. Da sie so brüllten – ich wußte zu dem Zeitpunkt noch nicht, daß
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