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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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die Leute hier immer brüllen –, fürchtete ich, es könnte im nächsten Augenblick eine Prügelei unter ihnen ausbrechen. Ich entwich deshalb in einem günstigen Moment und verließ die Brücke. Eine Straße ganz aus Stein zieht sich dort, wo Du jetzt, wenn Du diesen Brief bekommst, die äußeren Mauern der kaiserlichen Stallungen siehst, am Kanal entlang. Ich wollte die Straße überqueren, da passierte etwas ganz Schreckliches.
    Übrigens – verzeih, daß ich von einem Gedanken zum anderen und wieder zurück springe, aber es ist wirklich schwer, meine Eindrücke in eine geordnete Reihe zu fassen, da zu viel auf einmal in diesen wenigen Tagen auf mich eingestürmt ist – gab es unter den Leuten auf der Brücke keine Prügelei. Sie prügeln sich selten, auch nicht solche niederen Standes. Es kann natürlich sein, daß sie sich in der Öffentlichkeit nicht prügeln und solche Tätigkeit in ihren Häusern betreiben. Ich kann mich noch viel zu wenig in der hiesigen Sprache ausdrücken, um Herrn Shi-shmi danach zu fragen. Sie prügeln sich nicht, aber sie brüllen. Sie brüllen immer, alle. Es hat nichts zu bedeuten. Freilich, man muß ihnen zugute halten, daß sie bei dem Lärm, der ständig hier herrscht, gar nicht in normaler Lautstärke reden können. Da würde sie niemand verstehen. Kannst Du Dir ein Leben vorstellen, lieber Freund Dji-gu, das darin besteht, ständig den Tag und Nacht herrschenden Lärm zu überschreien? Du kannst es Dir nicht vorstellen. Die Zukunft, lieber Freund Dji-gu, ist ein Abgrund. Aber ich lebe noch.
    Der Zeitpunkt ist gekommen, um diesen Brief an den Kontaktpunkt zu legen. Ich schließe deshalb für heute. Es umarmt seinen geliebten Dji-gu
    sein Freund Kao-tai

Vierter Brief
    (Samstag, 20. Juli)
    Sehr geliebter Freund.
    Drei Tage sind vergangen, in denen – wie immer – Neues, Überraschendes, Fremdartiges und Unerklärliches auf mich eingestürzt ist, aber ich fahre in der Schilderung der Ereignisse fort, die unmittelbar auf meine Ankunft gefolgt sind.
    Die erwähnte Straße, die ich überqueren wollte, ist eine Allee. Links und rechts des Pflasters zieht sich ein kümmerlicher, lieblos gehaltener Rasenstreifen hin. Die Steine sind ebenfalls sehr nachlässig in die Straße eingelassen, die dadurch ziemlich holprig ist. Wäre der Erhabene Sohn des Himmels nur ein einziges Mal über diese Straße gefahren, er hätte den Obersten Straßenbau-Mandarin unverzüglich köpfen lassen. In dem Rasenstreifen wachsen unschöne, ungepflegte Bäume.
    Nichtsahnend schickte ich mich an, diese Allee zu überqueren, als sich ein unvorstellbares Heulen, Knirschen und Rattern näherte, für das in unserer Welt jeder Vergleich fehlt. Gleichzeitig raste mit der Geschwindigkeit eines Blitzes ein großes Tier – oder ein feuriger Dämon, schoß es mir durch den Sinn – auf mich zu, ja: schneller als jeder Blitz, so ungeheuer schnell, daß ich das Tier oder Ding gar nicht sehen konnte. Inzwischen weiß ich ungefähr, was für Dinge das sind – es sind keine Dämonen, jedoch mindestens so gefährlich wie für abergläubische Leute Dämonen –, aber damals war ich natürlich noch völlig unvorbereitet. Ich hatte die Straße schon zur Hälfte überquert, als mich – so meinte ich – das schnaubende Tier erblickte. Alles spielte sich im Bruchteil eines Augenblicks ab. Ich erkannte, daß der Dämon es nicht auf mich abgesehen hatte. Er gab vielmehr einen – wenn möglich – noch gräßlicheren Heulton von sich und versuchte auszuweichen. Auch ich wollte ausweichen und sprang mit ein paar Sätzen zur Brücke zurück. Wie ein in höchster Wut rasendes Wildschwein aber konnte das Tier (größer als zehn Wildschweine) seine Richtung nicht so schnell ändern. Noch immer heulend, dann einen Knall ausstoßend, den man nur erzeugen könnte, wenn man das gesamte kaiserliche Feuerwerksmagazin für das Neujahrsfest auf einmal anzündete, sprang der Dämon, schien es mir, auf einen Baum hinauf. Ich stürzte zu Boden und verlor die Besinnung.
    Als ich wieder erwachte, hatte sich eine noch größere Menge von Großnasen, von denen wieder einer aussah wie der andere, versammelt. Mich hatte man zwar auf eine Holzbank gelegt, die zwischen den Bäumen stand, kümmerte sich aber fast nicht um mich. Alles stand um den Baum herum, auf den der schnelle Dämon »Zehn Wildschweine« hinaufgeklettert war. Nein: er war nicht hinaufgeklettert, sah ich, als ich mich ein wenig erhob, er hatte sich am Stamm festgebissen. Heute weiß

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