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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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anderen, sondern nur 99999. Alle außer den zweien erscheinen mir nach wie vor wie bleiche Riesenkrebse ohne Ähnlichkeit mit Dir und mir und unseresgleichen. Freilich, auch Herr Shi-shmi ist weit davon entfernt, mich zu verstehen, aber er hilft mir seine ferne Welt zu begreifen.
    Kennengelernt habe ich Herrn Shi-shmi auf ziemlich unwegsame und leider auch schmerzliche Weise. Du wirst daran sehen, was ich in den wenigen Tagen, die ich nun »unterwegs« bin, alles erlebt habe. Ich schreibe an Herrn Shi-shmis Tisch, in seinem Haus. Er selber ist nicht da. Der Kontaktpunkt ist zum Glück nicht weit vom Haus entfernt. Ich könnte ihn zur Not allein finden.
    Wir haben vor meiner Abreise viel über mein, wie manchem scheinen könnte, nicht ungefährliches Unternehmen gesprochen. Du, geliebter Dji-gu, der Erfinder des mathematischen Zeitsprungs, bist der einzige, der von meiner Reise weiß. Wir haben viel gesprochen, und Du erinnerst Dich, daß ich den weisen Satz des großen Meng-tzu »Wer beobachten will, darf selber nicht beobachtet werden« als einen der wichtigsten Grundsätze für mein Vorhaben betrachtete. Ich habe deshalb, wie Du selber gesehen hast, eine denkbar unauffällige Kleidung für meine Reise gewählt, habe auf alle Rangabzeichen als Kwan der Klasse »A4« 3
› Hinweis
verzichtet und sogar meine Amtskette als Präfekt der kaiserlichen Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände« – die zu tragen ich eigentlich verpflichtet bin – zurückgelassen. Ich wollte nicht auffallen, wollte unbeobachtet beobachten. Aber die ganzen weisen Sprüche nicht nur des Meng-tzu, nein, des ganzen ›Li Chi‹ helfen in dieser verrückten Zukunft nichts. Meine, wie wir meinten, unauffällige Kleidung ist für hiesige Begriffe so außer jeder Gewohnheit, daß ich genausogut in Weiberkleidung oder als bunter Palasthund verkleidet angekommen sein könnte. Das Aufsehen wäre auch dann nicht größer gewesen.
    Die Reise selber verlief ganz ohne Schwierigkeiten und war das Werk eines Augenblicks. Unsere vielen Experimente haben sich gelohnt. Nachdem ich Dich auf jener kleinen Brücke über den »Kanal der blauen Glocken« – die wir als den geeignetsten Punkt ausgesucht und errechnet hatten – umarmt, alles in Gang gesetzt hatte, was notwendig war, war es mir, als höbe mich eine unsichtbare Kraft in die Höhe, wobei ich gleichzeitig wie von einem Wirbelwind gedreht wurde. Ich sah noch Dein rotes Gewand leuchten, dann wurde es Nacht. Einen Augenblick danach saß ich, natürlich etwas benommen, auf ebender Brücke über den »Kanal der blauen Glocken«; aber es war alles anders. Kein einziges Gebäude, keine Mauer, kein Stein von dem, was ich eben noch gesehen hatte, war noch vorhanden. Ungeheurer Lärm überfiel mich. Ich saß am Boden neben meiner Reisetasche, die ich krampfhaft festhielt. Ich sah Bäume. Es war – es ist – Sommer wie vor tausend Jahren. Eine fremde Sonne schien über dieser Welt, die so sonderbar, so völlig unbegreiflich ist, daß ich zunächst gar nichts wahrnahm. Ich saß da, hielt meine Reisetasche fest, und wenn ich gekonnt hätte, wäre ich sofort wieder zurückgekehrt. Aber Du weißt, das geht nicht. Mein erster Gedanke war: hat Shiao-shiao Sehnsucht nach mir? Ich werde warten müssen, bis ich sie wieder liebkosen kann. Sie wird warten müssen.
    Die Brücke, auf der ich erwachte oder ankam, ist ganz anders als die Brücke, auf der ich Dich verließ. Sie spannt sich zwar immer noch über den »Kanal der blauen Glocken«, ist aber nicht mehr aus Holz, sondern aus Stein, allerdings aus sehr grob gehauenem, und offensichtlich ziemlich lieblos zusammengefügt. Alles »hier« ist lieblos gemacht. Ich dachte: zum Glück haben die nach tausend Jahren immer noch eine Brücke an derselben Stelle. Es hätte ja sein können, daß sie, nachdem die alte Holzbrücke verfault oder sonst zusammengebrochen war, die neue Brücke etwas weiter oben oder unten errichtet hätten. Dann wäre ich ins Wasser gefallen, was natürlich unangenehm, aber nicht gefährlich gewesen wäre, denn der »Kanal der blauen Glocken« ist längst nicht mehr so tief, wie Du ihn kennst, allerdings äußerst schmutzig. So ziemlich alles hier ist äußerst schmutzig. Schmutz und Lärm – das beherrscht das Leben hier. Schmutz und Lärm ist der Abgrund, in den unsere Zukunft mündet.
    Auch die Hügel auf der westlichen Seite des Kanals haben sie inzwischen abgetragen, denn alles ist ganz flach, soweit man sehen kann. Aber das habe

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