Brombeersommer: Roman (German Edition)
hineingeraten. Nichts, was sich in seinem elfjährigen Leben bis dahin ereignet hatte, war so in Theos Kopf haften geblieben. Das Foto, das Goebbels während seiner Rede zeigte, hatte er aus der Zeitung ausgeschnitten und mit einem Ehrenplatz an der Wand bedacht.
Und dann war da das schöne Foto vom Haus Busch gewesen. Ein kleiner Steppke war er noch, als ihn die Eltern mit zum Besuch bei dem Hauptmann Franz Pfeffer von Salomon nahmen, der dort residierte. Er war ein Parteifreund seines Vaters. Theo selbst konnte sich nicht an den Nachmittag erinnern, er war zu der Zeit nicht älter als vier, fünf, aber die Eltern erzählten bei jeder Gelegenheit davon, denn auch der Führer und Rudolf Hess waren dort schon zu Gast gewesen. Aber nun war augenscheinlich selbst der Anblick der harmlosen Fassade des Hauses Busch ein verräterisches Indiz, das seine Eltern lieber aus dem Weg geräumt hatten.
Theo holte ein Küchenmesser, lockerte mit der Klinge die Reißzwecken, mit denen die verbliebenen Fotos befestigt waren, und hängte auch den Rest der Bilder ab. Die leere Wand in ihrem schmuddeligen gelbbräunlichen Chamois war ihm lieber als die lückenhafte Bildersammlung, die ihn daran denken ließ, dass es nur noch Flicken und Leerstellen gab, eine in Scherben gefallene, zerfetzte Welt, in der nicht einmal mehr die Bruchstücke der Lebensläufe der einzelnen Menschen zusammenpassten. »Irgendwann,wenn es wieder Farbe gibt, streichen wir die Wand«, sagte er zu Siegfried, der ihn nur staunend ansah.
Theo war kurz nach Kriegsende aus der Gefangenschaft entlassen worden, noch vor seinem Geburtstag im Oktober. Es war ein Weg zurück in eine unkenntlich gewordene Heimat. Natürlich, da war der Fluss, an dem man sich orientieren konnte. In der Volme trieben Gerümpel, Halbverkohltes, Zersplittertes. Der Wasserspiegel war angestiegen davon. Das Erste, was er von seiner Heimatstadt wirklich erkannte, war das Rathaus. Nur Reste standen noch und halbe Kirchtürme, tief gefüllt mit Himmel.
Der Frankreichfeldzug war so verlaufen, wie sie sich die Eroberung eines Landes in der Hitlerjugend vorgestellt hatten. Danach kommandierte man ihn ab nach Afrika. Er kam zu Rommels Truppen in Libyen, worum ihn viele Kameraden beneideten. Aber Rommel war weniger beliebt bei seinen Leuten, als es immer hieß. Theo, Funker bei der Flugsicherheit, bekam ihn nie zu Gesicht.
Am 16. Februar 1941 standen die Deutschen in Syrte, am 24. März besetzten sie El Agheila, im April schlossen sie mit Hilfe verbündeter italienischer Divisionen Tobruk ein. Dann begannen die Nachschubschwierigkeiten. Trotzdem hatte Rommel im Juni 1942 Tobruk erobert. Dann wendete sich das Blatt. Die erste Schlacht von El Alamein endete im Juli mit einem Patt, im Oktober 1942 zwangen die Alliierten unter General Montgomery Rommel in der langen, verlustreichen zweiten Schlacht von El Alamein zum Rückzug. Aus Siegen wurden Niederlagen. Theo kam es nun so vor, als seien sie immer nur auf demRückzug, obwohl es aus dem Reich ganz anders klang. Die Nachrichten, die von zu Hause kamen, die Reden und Siegesmeldungen erschienen ihm unwirklich. Generalfeldmarschall Rommel weigerte sich, dem Befehl Hitlers zu folgen und bis zum letzten Mann zu kämpfen. Er zog die Truppen ab. Gewissermaßen verdankte Theo ihm sein Leben.
Die nächste Station war Italien gewesen. Die Achsenmacht Italien wankte. Als die Alliierten im Juli 1943 auf Sizilien landeten, Mussolini abgesetzt wurde und Italien nach der Landung alliierter Truppen auf dem Festland einen Waffenstillstand schloss, erklärte Deutschland den ehemaligen Freund und Verbündeten zum Feind. Theo aber, der mit seiner Einheit längere Zeit in Verona und Ravenna stationiert war, hatte sich mit einem Italiener, Massimo, angefreundet.
Italien. Was für ein Land, selbst im Krieg. Und das Italienische! Da war so viel Wohlklang. Theo sprach die Wörter lustvoll aus, ohne sie zu verstehen. Massimo gab ihm Italienischunterricht, Theo hatte ein gutes Ohr und eine schnelle Auffassungsgabe. Rommel, der die deutschen Truppen in Norditalien führte, hielt nichts von solcher Freundschaft. Er ließ über eine Million entwaffnete italienische Soldaten als »Militärinternierte« zur Zwangsarbeit nach Deutschland schaffen. Theo verlor seinen neuen Freund. Der umarmte ihn, gab ihm die Adresse seiner Mutter und versuchte sich zu den Partisanen durchzuschlagen.
Die Amerikaner und Briten rückten weiter den Stiefel hinauf, seine Einheit wurde
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