Brombeersommer: Roman (German Edition)
1
Die Kamera war ganz neu.
Theo hatte alle Register gezogen, um den Kauf zu befördern, als Karl und er einige Tage vor Silvester durch die Stadt gebummelt und vor Arnolds Fotoladen stehen geblieben waren. »Mensch, Karl, nun kauf das Ding endlich. Die Rollei ist dir treu, die hält ein Leben. Spiegelreflex. Stativ. Selbstauslöser.«
Karl fand sie bildschön. Das feste graue Schutzgehäuse mit Umhängeriemen, dazu der Belichtungsmesser.
»Und?«, drängte Theo. »Bist du so weit?«
Die Rollei wurde gekauft. Karl liebte sie von dem Moment an, als sie zum ersten Mal um seinen Hals hing, obwohl er sich ein bisschen angeberisch damit vorkam.
Eigentlich hätte Karl sie in Raten bezahlen müssen, aber Theo schien zu wissen, dass diese Tatsache den Kauf in letzter Minute vereiteln konnte. »Wir zahlen bar«, sagte er deshalb zu dem schnöseligen Verkäufer, als der den Preis berechnet hatte. Schulden, das hatte es bei Karls Familie nie gegeben, egal, wie knapp das Geld war, und es war immer knapp gewesen.
Der Lackaffe von Verkäufer betrachtete Theo daraufhin fast schon mit Anerkennung und rieb das graue Gehäuse, nachdem er den Fotoapparat darin verstaut hatte, noch einmal an seinem weißen Kittel blank. Dann überreichteer das gute Stück Theo, der es wortlos an Karl weitergab.
»Jetzt stehe ich in deiner Schuld, Theo. Ich weiß nicht …?«
Sie traten vor die Ladentür. Sacht fielen ein paar vereinzelte Schneeflocken auf den neuen Fotoapparat und verschmolzen mit dem hellen Grau der Hülle.
»… wie du das wiedergutmachen kannst? Geht nicht. Musst du zurückzahlen, mein Lieber.«
Das erste Bild des ersten Films, der Verkäufer hatte ihn noch eingelegt, zeigt den lachenden Theo vor Arnolds Fotoladen in der Mittelstraße. Den Kragen des Wintermantels, Pfeffer und Salz, hat er hochgeschlagen, eine Hand ist in der Tasche vergraben, mit der andern zieht er den Hut zum Gruß. Seine Miene scheint zu sagen: Nun mach schon, es ist kalt.
Viola würde ganz anders dastehen, später. Der Winter passte nicht zu ihr. Sie würde das Gesicht in die Sonne halten und ihm – auf einem Storchenbein stehend, die Arme ausgebreitet wie im Flug – ironisch zublinzeln.
Nachdem Karl Theo versuchsweise auf Zelluloid gebannt hatte, machte er die ersten Fotos bei sich zu Hause.
Alle fanden die Mansarde gemütlich, von Anfang an. Und Karl selbst wollte an keinem anderen Ort mehr leben. Zwei Zimmer mit Dachschräge und ein eigenes Bad. Das Bad ohne Fenster, aber mit Wanne und einem mit Holz beheizbaren Badeofen, der das Bad mitheizte, während er das Badewasser wärmte.
Die ganze Häuserzeile war neu hochgezogen worden, nur das Eckhaus war stehen geblieben und zeigte angekratztenJahrhundertwendecharme. Die neuen Häuser waren einheitlich grau, Parterre, drei Stockwerke und die Mansarden, nachkriegsfunktional und für alle, die einzogen, ein großes Glück.
Karl hatte die Stadt kaum wiedererkannt, als er zurückgekommen war. Noch kurz vor Kriegsende waren die Bomben gefallen und hatten das Zentrum so gut wie ausgelöscht. Man wusste kaum mehr, wo man war, selbst wenn man sich eine ganze Kindheit und Jugend lang das Netz der Straßen in den Kopf eingeschrieben hatte.
Es war nicht leicht gewesen, die Wohnung zu bekommen. Edith war alle zwei Tage zum Wohnungsamt und zu den Baugenossenschaften gerannt. Sie gab nicht so schnell auf, wenn sie etwas wollte. Und das wollte sie nun wirklich: endlich raus aus der Wohnküche bei seiner Tante. »Tante Gertrud ist ein Drachen«, sagte sie, und die bedrohliche Falte erschien zwischen ihren geschwungenen dunklen Augenbrauen, die sie, das Gesicht ganz nah am Spiegel, mit einer Pinzette in Form zupfte, seit sie das in einer Frauenzeitschrift gesehen hatte. »Du solltest mal den ganzen Tag hier sein und miterleben, wie sie die Türen knallt!«
Edith. Dass sie sich wiedergefunden hatten! Schon lange vor Kriegsende hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Das Chaos war einfach zu groß gewesen. Karl an der zusammenbrechenden Front im Osten, Edith im zunehmend eingekesselten Ostpreußen. Er hatte inständig gehofft, dass es ihr gelingen würde zu fliehen. Was ihr von den Russen geblüht hätte, wusste er besser als die Zuhausegebliebenen, denn er war in Russland und sah, was die Deutschen mit den Russen machten.
Im Juni 1945 hatte Edith an seine Eltern geschrieben und nach ihm gefragt. Sie war tatsächlich in den Westen gelangt. Die Adresse, die Karl ihr gegeben hatte, stimmte zwar
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