Brombeersommer: Roman (German Edition)
Neugeborenen, noch blaue Augen. Sie hatte auch sonst keinerlei Ähnlichkeiten mit den violetten Zuckerveilchen, für die ihre Mutter eine Schwäche hatte, sondern zeigte eher einen Gelbstich, wie Kinder ihn haben, die mit einer Gelbsucht auf die Welt kommen.
Violas Mutter, Helene Matussek, war etwas gekränkt, dass das Baby nicht so aussah, wie sie es sich während der Schwangerschaft ausgemalt hatte. Sie blieb aber bei dem festen Entschluss, es Viola zu nennen, obwohl sie ihren Mann nicht von der Schönheit des Namens zu überzeugen vermochte. Sie hatte einen Roman gelesen, dessen Heldin Viola hieß. Roman und Heldin hatten ihr außerordentlich gefallen, ja, sie hatte das an den Rändern schon speckig gewordene Buch während ihrer Schwangerschaft mit sich herumgeschleppt wie andere Frauen Schokolade, für den Fall, dass Gelüste sie überkamen.
Der Vater des Kindes, Willi Matussek, hatte eher an einen Namen wie Sigrid oder Herta gedacht, an etwas Gebräuchlicheres eben. Aber Helene kämpfte. Auch der Name Viola, meinte sie, habe ja nur fünf Buchstaben, so wie Herta. Das Ehepaar einigte sich darauf, dass ein weiteres Kind nach Willis Wünschen getauft werden sollte.Und so bekam Viola, allerdings erst nach Jahren, eine Schwester, die Gerda genannt wurde.
Helene Matussek, Violas Mutter, hatte es ihrer Leselust zu verdanken, dass sie keine verbitterte Ehefrau und Mutter wurde. In einen Bäckerei- und Konditoreibetrieb hineingeboren, war sie mit Zuckerwaren aufgewachsen. Die kleinen Törtchen und Torten waren ihre Leidenschaft. Schon mit sechs Jahren wusste sie, dass sie Konditormeisterin werden wollte. Helene wollte ihr Leben den kleinen, wunderhübschen Dingen widmen, die den Menschen das Leben versüßen, und all ihre Fantasie gebrauchen, um ihre Kunden immer wieder zu entzücken.
Leider hatte ihr Vater ganz andere Vorstellungen von ihrer Zukunft. Sie würde erstens heiraten, und zweitens sollte ihr Bruder Walter die Konditorei übernehmen. Für sie war die Rolle der Verkäuferin im Laden vorgesehen. So wandte sich Helene Dieckmann, wie sie damals noch hieß, dem Lesen von Romanen zu. Wie andere Leute süchtig nach Zucker sind, war sie, die verhinderte Zuckerbäckerin, süchtig nach Liebesgeschichten. Das wahre Leben war nicht so. Aber Helene bestand darauf, dass es immerhin so sein könnte, und ihrer Tochter wollte sie alle Voraussetzungen für ein solches, immerhin vorstellbares Leben mit auf den Weg geben.
Sie hatte einen Bergmann geheiratet, der auf der Zeche unter Tage Kohle abbaute und wie die andern Kumpel nach der Schicht mit ein, zwei frischen Pils im Bauch als Mann mit Kohlestaub in Lungen und Wimpern und schwarzumrandeten Augenlidern wieder auftauchte. Keine Wäsche, keine Dusche in der Kaue auf dem Werksgeländebrachte das weg. Das trug er von der Zeche heim, ein Erkennungszeichen, das ihn einer Welt zuordnete, die den Frauen unzugänglich war. Hinter dem Zechentor lebte Willi Matussek ein ihr verborgenes Leben, wie sie es umgekehrt in ihren Romanwelten tat.
Sie bewohnten die Hälfte eines Doppelhäuschens in der Kolonie, hatten eine Bergmannskuh und, von Beginn weg, Brieftauben. Gegen einen Kaninchenstall hatte Helene sich lange gewehrt. Aber die Zeiten waren schwer, und sie sah ein, dass es eine gute Sache war, ein paar Karnickel zu halten. Wenn Willi schlachtete, ging sie mit Viola und der kleinen Gerda spazieren oder Besuche machen. Und wenn sie sich die Frage gestellt hätte, ob sie glücklich mit Willi sei, hätte sie ohne Zögern, aber auch ohne Begeisterung Ja gesagt.
Willi, obwohl katholisch, wählte sozialdemokratisch wie viele Kumpel. Helene war das Politische fremd, aber die mehr und mehr werdenden braunen und schwarzen Uniformen missfielen ihr.
1934 war die Familie Matussek an den südlichen Rand des Ruhrgebiets gezogen, wo die Häuser ähnlich grau, die Luft aber besser war. Willi Matussek wurde Hausmeister. Weil er eine Staublunge hatte, war Schluss mit der Arbeit unter Tage. Das war ihn schwer angekommen. »Den Kohlenstaub hustet man morgens doch raus«, wehrte er sich, aber der Arzt erklärte ihm, es sei nicht der Kohlenstaub. Es sei der Steinstaub, und der bleibe drin. So hatten sie ihr Häuschen verlassen. Willi Matussek hatte Heimweh nach dem Pütt, behielt dieses Gefühl aber für sich. Und dass er die Tauben vermisste, sagte er erst recht niemandem. DieZiege war ihm egal. Immerhin ging er samstags auf den Fußballplatz, wie er es immer getan hatte, falls er nicht auf Schicht
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