Brooklyn
mit anhörte, wie die Tür des Kleiderschranks geöffnet wurde und Kleiderbügel mitsamt den Kleidern von der Stange gestreift wurden. Sie stellte sich vor, dass ihre Mutter nervös ihren Schritten lauschte, wenn sie das Zimmer durchquerte. Erst nachdem der Koffer schon fast voll war, öffnete sie die Schublade, in die sie Tonys Briefe gelegt hatte. Sie steckte sie seitlich in den Koffer. Sie würde diejenigen, die sie noch nicht aufgemacht hatte, während ihrer Fahrt über den Atlantik lesen. Als sie die Photographien in der Hand hielt, die an dem Tag in Cush aufgenommen worden waren, das eine Photo mit ihr und Jim und George und Nancy und das andere mit ihr und Jim allein, auf dem sie so unschuldig in den Apparat lächelten, dachte sie einen Moment lang daran, sie zu zerreißen und unten in den Mülleimer zu stecken. Doch dann überlegte sie es sich anders und holte langsam alle ihre Kleidungsstücke aus dem Koffer und verstaute die zwei Photographien mit der Vorderseite nach unten auf dem Boden des Koffers und deckte sie dann mit ihren Sachen zu. Irgendwann in der Zukunft würde sie sie anschauen und sich an etwas erinnern, was ihr, wie sie jetzt wusste, bald wie ein seltsamer, undeutlicher Traum erscheinen würde.
Sie schloss den Koffer, trug ihn nach unten und ließ ihn im Flur stehen. Draußen war es noch hell, und als sie sich an den Küchentisch setzte und eine Kleinigkeit aß, drangen die letzten Sonnenstrahlen durch das Fenster.
Im Laufe der folgenden Stunden war sie ein paarmal versucht, ihrer Mutter ein Tablett mit Tee und Keksen oder Sandwiches zu bringen; die Tür ihrer Mutter blieb geschlossen, und aus dem Zimmerwar kein Laut zu hören. Sie wusste, würde sie anklopfen oder die Tür öffnen, würde ihre Mutter energisch erklären, dass sie nicht gestört werden wollte. Später, als sie sich entschied, zu Bett zu gehen, und an der Tür von Rose’ Zimmer vorbeiging, dachte sie daran, hineinzugehen und ein letztesmal den Ort zu sehen, an dem ihre Schwester gestorben war; sie blieb zwar einen Moment stehen und schlug die Augen fast ehrerbietig nieder, doch sie öffnete die Tür nicht.
Da sie die Vorhänge nicht zugezogen hatte, wurde sie vom Morgenlicht geweckt. Es war noch früh, und außer Vogelgezwitscher war nichts zu hören. Sie wusste, dass ihre Mutter ebenfalls wach war und auf jedes Geräusch horchte. Leise, vorsichtig, zog sie die frischen Sachen an, die sie bereitgelegt hatte, ging nach unten und stopfte die Kleider vom Vortag zusammen mit ihren Toilettenartikeln in den Koffer. Sie vergewisserte sich, dass alles da war, Geld, ihr Pass, der Brief von der Schiffahrtsgesellschaft und der Brief für Jim Farrell. Dann setzte sie sich ins Wohnzimmer, um nach Joe Dempseys Wagen Ausschau zu halten.
Als er vorfuhr, beeilte sie sich, um an der Tür zu sein, bevor Joe Dempsey anklopfte. Sie legte einen Finger an die Lippen, um anzudeuten, dass sie beide nicht sprechen durften. Er verstaute das Gepäck im Kofferraum, während sie den Hausschlüssel auf das Tischchen im Flur legte. Während sie davonfuhren, bat sie ihn, noch kurz vor dem Farrell’s in der Rafter Street zu halten, und steckte dann den Brief durch den Schlitz in der Haustür.
Während der Zug, dem Lauf des Slaney folgend, nach Süden fuhr, stellte sie sich vor, wie Jim Farrells Mutter mit der Morgenpost nach oben kam. Jim würde ihren Brief zwischen Rechnungen und Geschäftsschreiben finden. Sie stellte sich vor, wie er ihn öffnete und sich fragte, was er tun sollte. Irgendwann im Lauf des Vormittags würde er zum Haus in der Friary Street kommen, und ihre Mutter würde ihm die Tür öffnen, und sie würde dastehen und tapfer die Schultern straffen und Jim Farrell mit fest zusammengebissenenZähnen und mit einem Ausdruck in den Augen ansehen, der zugleich einen unaussprechlichen Kummer und den ganzen Stolz, den sie aufzubringen vermochte, verriet.
»Sie ist zurück nach Brooklyn«, würde ihre Mutter sagen. Und als der Zug auf dem Weg nach Wexford an der Macmine Bridge vorbeiratterte, stellte sich Eilis die kommenden Jahre vor, wenn diese Worte dem Mann, der sie gehört hatte, immer weniger und ihr selbst immer mehr bedeuten würden. Sie lächelte fast beim Gedanken daran, dann schloss sie die Augen und versuchte, sich nichts weiter vorzustellen.
Über den Autor
Colm Tóibín
wurde 1955 in Irland geboren. Bereits sein erster Roman Der Süden (1994) wurde von der Kritik enthusiastisch gefeiert. Danach erschienen Flammende Heide
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