Brotherband - Die Bruderschaft von Skandia: Band 1 (German Edition)
Eimer von sich weg, damit der eiskalte Inhalt ihn nicht traf.
»Ach, es ist der verrückte alte Thorn«, sagte er, als er den Eimer abstellte. »Was tut er denn hier?«
Karinas Augen wurden schmal, als sie das hörte. Offensichtlich sprachen die Jungen im Ort so von dem früheren Seewolf. So ein Jammer, dachte sie, und erinnerte sich daran, was für ein unglaublich beeindruckender Mann Thorn gewesen war, bevor er seine Hand verloren hatte.
Der Beutezug, bei dem Karinas Mann Mikkel ums Leben gekommen war, hatte sich zu einer wahren Unglücksfahrt entwickelt. Auf dem Rückweg hatte ein Sturm den Mast der Wolfswind gekappt. Bei dem Kampf gegen die Naturgewalten, als es darum ging, das Schiff vor dem Untergang zu bewahren und den gesplitterten Mast zu beseitigen, war Thorns rechter Arm in einem Wirrwarr von Seilen und zerbrochenem Holz eingeklemmt worden. Infolgedessen hatte er seine Hand verloren.
Thorn hatte dieses Unglück nie verwunden. Nur mit der linken Hand konnte er nicht länger ein Schwert oder eine Axt schwingen und auch nicht mehr rudern. Er besaß keine besondere Erfahrung als Navigator, und obwohl er ein fähiger Steuermann gewesen war, benötigte man am Steuerruder bei rauer See oft beide Hände. Daher gab es für ihn keinen sinnvollen Platz auf einem Wolfsschiff, und er fand sich plötzlich an Land wieder, ohne eine Möglichkeit, das Leben fortzusetzen, das er liebte. Obendrein hatte er auch noch seinen besten Freund verloren.
Er war in tiefe Verzweiflung verfallen und hatte Trost im Bier oder Branntwein gesucht. Er fand wenig Trost in beidem, aber ein starker Rausch half ihm, seinen Verlust wenigstens zeitweise zu vergessen.
Zudem linderte der Alkohol den Schmerz, der ihn manchmal ohne Vorwarnung überfiel und durch den Stumpf seines rechten Armes fuhr. Zum Glück passierte dies mit der Zeit immer seltener. Doch es gab ihm einen weiteren Grund, viel zu viel zu trinken.
Sein Haar und Bart wurden immer länger, beides war verfilzt und ungekämmt und schien noch vor der Zeit zu ergrauen. Er wusch sich nur noch selten und achtete nicht mehr auf sein Äußeres. Er verkam zu einem Wrack, denn mit dem Verlust seiner rechten Hand schien auch sein ganzer Selbstrespekt verloren gegangen zu sein. Keiner seiner Freunde oder früheren Schiffskameraden konnte ihn aus diesem Teufelskreis herausreißen. Selbst Erak, der sein Skirl, sein Schiffskapitän gewesen war, bevor er Oberjarl von Skandia wurde, konnte nicht zu ihm durchdringen, um vernünftig mit ihm zu reden.
»So alt ist er gar nicht«, sagte Karina jetzt zu ihrem Sohn.
Hal runzelte die Stirn und musterte den halb bewusstlosen Thorn genauer. »Wirklich? Er sieht aus wie hundert.«
»Ach ja?«, erwiderte sie. Ihr war natürlich bewusst, dass für einen Jungen jeder über fünfundzwanzig alt aussah. Sie legte den Kopf schief und gab ihrer Neugierde nach – wohl wissend, dass das wahrscheinlich ein Fehler war.
»Und wie alt, glaubst du, bin ich?«, fragte sie.
Hal machte eine abwehrende Geste und lächelte sie an.
»Ach, du bist noch nicht richtig alt, Mutter«, sagte er beruhigend. »Du bist bestimmt nicht älter als sechzig oder so.«
Karina war achtunddreißig. Sie war schlank, verglichen mit den fülligeren nordländischen Frauen, und sie war sehr schön. Mehr noch, sie hatte eine ruhige und selbstbewusste Ausstrahlung, und das schon, seit sie als Sklavin nach Hallasholm gekommen war. Die Nordländer hatten sie von einem Beutezug in Araluen mitgebracht. Sofort war sie Mikkel Schwertmeister aufgefallen, einem der besten Krieger Skandias. Mikkel hatte sie von dem Mann gekauft, der sie gefangen genommen hatte, und sie danach freigelassen. Der Verkäufer hatte die Entschlossenheit in Mikkels Augen gesehen, als er ihm ein Angebot gemacht hatte, und prompt noch dreißig Prozent aufgeschlagen. Mikkel hatte den Preis ohne zu zögern bezahlt. Noch jetzt, über zehn Jahre später, wurde Karina in Hallasholm als Schönheit betrachtet, und allein im vergangenen Jahr hatte sie vier eifrige Bewerber um ihre Gunst abgewiesen.
Sie musterte ihren Sohn kühl, und er trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Irgendetwas, was er gesagt hatte, schien ihr missfallen zu haben, aber er wusste nicht, was.
Vielleicht war es ausgerechnet Hals taktlose Bemerkung, die Thorns Schicksal besiegelte. Denn Karina zeigte mit dem Daumen auf den vollen Eimer.
»Er soll es bekommen«, sagte sie.
Hal zögerte und sah von Karina zu Thorn und zum Eimer.
»Soll es bekommen …
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