Bruderherz
Kapitel 1
An einem schönen Maiabend saß ich auf meiner Veranda und beobachtete, wie die Sonne über dem Norman-See unterging. Ein wundervoller Tag ging zur Neige. Ich war wie immer um fünf Uhr morgens aufgestanden, hatte mir starken französischen Kaffee aufgebrüht und das übliche Frühstück aus Rührei und einer Schale frischer Ananas zubereitet. Um sechs Uhr hatte ich angefangen und bis Mittag ununterbrochen geschrieben. Als ich gerade die beiden am Vorabend gefangenen Barsche gebraten hatte und mich zum Mittagessen hinsetzen wollte, rief meine Agentin an. Immer wenn ich kurz davor bin, einen Roman zu beenden, nimmt Cynthia alle an mich gerichteten Nachrichten entgegen und sortiert sie. Dieses Mal war die einzig wichtige Nachricht, dass sie die Filmrechte für meinen letzten Roman »Blauer Mörder« verkauft hatte. Natürlich war dies eine tolle Neuigkeit. Da aber bereits zwei meiner vorherigen Romane verfilmt worden waren, war ich schon daran gewöhnt.
Den restlichen Nachmittag verbrachte ich wieder schreibend in meinem Arbeitszimmer und hörte erst gegen 18 Uhr 30 auf. Am nächsten Tag würde ich mit den letzten Korrekturen des noch namenlosen Manuskripts fertig werden. Ich war müde, aber mein neuer Thriller »Die Angst, zu leben« würde noch dieser Woche in den Buchläden stehen, also genoss ich das Gefühl der Erschöpfung nach einem arbeitsreichen Tag. Da meine Hände vom vielen Tippen schmerzten und meine Augen vor Trockenheit brannten, schaltete ich den Computer aus und stieß mich mit meinem Drehstuhl vom Schreibtisch weg.
Ich ging nach draußen und spazierte den langen Kiesweg hinab zum Briefkasten. Es war an jenem Tag das erste Mal, dass ich hinaus an die frische Luft kam, und das grelle Sonnenlicht, das durch die hohen Weihrauchkiefern zu beiden Seiten der Auffahrt fiel, brannte mir in den Augen. Was für eine wunderbare Ruhe! Fünfzehn Meilen weiter südlich staute sich in Charlotte immer noch der Feierabendverkehr, und ich war dankbar, nicht Teil dieses Wahnsinns sein zu müssen. Beim Knirschen der kleinen Kieselsteinchen unter meinen Füßen musste ich unwillkürlich an meinen besten Freund Walter Lancing denken und daran, wie er jetzt gerade, vor Wut kochend, in seinem Cadillac saß und das ewige Gehupe und das Meer von Bremslichtern verfluchte, unterwegs von seiner Wohnung im oberen Stadtteil Charlottes, in der er an der vierteljährlich erscheinenden Naturzeitschrift Der Wanderer arbeitete, zu seiner Frau und den Kindern. Nicht mit mir, dachte ich, der Einsiedler.
Glücklicherweise quoll heute der Briefkasten nicht über. Nur zwei Briefe. Eine Rechnung und ein Briefumschlag, auf dem nichts außer meiner getippten Anschrift stand. Fanpost.
Zurück im Haus, mixte ich mir einen Jack Daniel’s Sun Drop und nahm die Briefe sowie ein Buch über Gerichtspathologie mit nach draußen auf die Veranda. Ich legte bis auf meinen Drink alles auf dem kleinen Glastischchen ab, machte es mir in einem Schaukelstuhl bequem und blickte übers Wasser. Der Garten hinter dem Haus, das ich bereits seit zehn Jahren bewohnte, war schmal, und auf beiden Seiten schirmte mich dichter Wald von jeweils über einer Viertelmeile von meinen Nachbarn ab. In diesem Jahr hatte der Frühling erst Mitte April Einzug gehalten, daher schimmerten die letzten rosa und weißen Hartriegelblüten immer noch zwischen den verschiedenen Grüntönen des Waldes durch. Hellgrüner Rasen erstreckte sich bis hinunter zum Ufer mit dem verwitterten Holzsteg und der alten Trauerweide, deren tief herunterhängende Zweige bis ins Wasser reichten. Dort, wo mein Grundstück bis an den See reichte, war er fast zwei Kilometer breit, so dass man die Häuser am anderen Ufer nur im Winter sehen konnte, wenn die Bäume ihre Blätter abgestreift hatten. Jetzt, mitten im Frühjahr, da die Bäume wieder dichte grüne und gelbe Baumkronen entwickelt hatten, gehörte der See mir allein, und ich fühlte mich, als wäre ich das einzige Lebewesen weit und breit.
Ich setzte meine Lesebrille auf und öffnete den ersten Briefumschlag. Wie erwartet fand ich darin die letzte Telefonrechnung und warf einen prüfenden Blick über die lange Liste der Verbindungen. Anschließend ergriff ich den leichteren Umschlag, auf dem merkwürdigerweise keine Briefmarke klebte. Ich schlitzte ihn auf, zog ein einziges weißes Blatt Papier hervor und entfaltete es. Auf der Blattmitte befand sich lediglich ein mit schwarzer Tinte gedruckter Absatz:
Hallo! Auf deinem
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