Bruderherz
Gewitter in meinem Zimmer. Ich öffnete die Augen und sah, wie die Tür auf- und zuschwang und Blitze über die Berggipfel zuckten. Ich schaute auf den Wecker: 3 Uhr 15.
Die Tür steht offen, dachte ich und tastete nach der Waffe auf meinem Nachttisch, fühlte jedoch lediglich die glatte Holzoberfläche. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen linken Arm; ich fuhr im Bett hoch und schrie, als ich nach unten blickte. Eine dunkle Gestalt kroch auf allen vieren über den Boden.
Mein Mund wurde pelzig und ich dachte nur noch an Flucht, als mich erneut ein Stich traf. Ich versuchte mich von der anderen Bettkante in Richtung Tür hinunterzurollen, doch nichts passierte. Es fühlte sich an, als lägen Bleigewichte auf meinen Armen und Beinen. Selbst meine Finger waren bewegungsunfähig und ich sank zurück auf das weiche Kissen. Die Augen fielen mir zu, während die dunkle Gestalt aufstand und sich zum Fußende des Bettes bewegte. Er sagte etwas, doch seine Worte zerflossen.
Blitze, schwarz…
Schmerz und Dunkelheit. Das Dröhnen der Bundesstraße unter mir. Gedämpfte Jazzmusik…
Als ich die Augen erneut aufschlug, umgab mich komplette Dunkelheit. Meine Hände waren mir mit Handschellen auf den Rücken gefesselt, die Füße mit einem dicken Seil zusammengebunden worden und schmerzhafter Durst quälte meinen gesamten Körper. Durch geschwollene, aufgeplatzte Lippen stieß ich einen krächzenden Hilferuf aus. Ein altmodischer Mond erschien riesenhaft und gelb. Die schemenhafte Gestalt eines Mannes griff nach mir, im nächsten Moment fühlte ich das Eindringen einer Nadel. Als ich aufstöhnte, sagte er: »Das alles ist bald vorbei.« Wieder Dunkelheit…
Sonnenlicht drang durch meine Lider. Schwitzend auf dem Rücken liegend, spürte ich eine weiche Matratze unter mir und ein Kissen als Stütze für meinen Kopf. Meine Hände und Füße waren nicht mehr gefesselt, so konnte ich mir die Decke als Schutz vor der Sonne über die Augen ziehen.
Pack deine Sachen und sei morgen früh um 6 Uhr abreisebereit.
Ich setzte mich auf und suchte den Wecker. Ich war nicht im Motel 6.
Mein Bett stand in dem kleinen quadratischen Raum längs an der hinteren Wand, und darüber befand sich ein Fenster, durch das gleißendes Sonnenlicht fiel. Das Fenster war mit schwarzen Eisenstangen vergittert. Ich wusste, dass das meinetwegen so war. Die rauen, kahlen Wände bestanden aus lehmroten, etwa 30 Zentimeter breiten Brettern, der Boden war aus Stein. Die Einrichtung beschränkte sich abgesehen vom Bett auf einen Nachttisch, einen Stuhl und einen wackeligen Schreibtisch neben der verschlossenen Tür an der gegenüberliegenden Wand. Ich bewegte mich zum Fenster und schaute durch die Stäbe.
So weit das Auge reichte, erstreckte sich vor mir eine semiaride Wüste, plattes Land mit niedriger gleichförmiger Vegetation. Keine Strommasten, kein Straßenpflaster, keine Hinweise auf irgendeine Form der Zivilisation außerhalb dieses winzigen Zimmers. Ich fühlte mich unendlich einsam. Der Himmel war türkisblau und es war warm in meinem Zimmer, aber bei der Intensität der Sonnenstrahlung musste es draußen unerträglich heiß sein.
Als ich mich vom Fenster abwandte, sah ich, dass auf dem Schreibtisch gegenüber ein Stück Papier lag. Ich trat auf den trotz der Hitze eisig wirkenden Steinboden, durchquerte den Raum und nahm den Zettel vom Schreibtisch.
Bevor wir uns kennen lernen, möchte ich betonen, dass jeder Versuch, zu fliehen, mich zu täuschen oder zu beseitigen, unsinnig wäre. Wenn du die mittlere Schreibtischschublade aufziehst, findest du darin einen Umschlag. Nimm dir etwas Zeit, wenn du hineinschaust.
Als ich den Umschlag öffnete, stockte mir der Atem: Fotos, die mich am offenen Grab von Rita Jones zeigten, und eine grobe Skizze meines Seegrundstücks mit Hinweisen auf die Fundorte von vier Leichen, drei mit Schreibmaschine getippte Seiten mit Einzelheiten zu den Umständen der Ermordung und der Angabe, in welchem Kleiderschrank meines Hauses sich das Tranchiermesser befand. Außerdem ein Zeitungsausschnitt über die Verurteilung eines Mannes, dessen Name (zusammen mit allen anderen persönlichen Details) geschwärzt worden war. Über der Schlagzeile stand in kritzeliger Handschrift: UNSCHULDIGER ERHÄLT DIE STRAFE FÜR MEIN VERBRECHEN. Ich wandte mich wieder dem Brief zu:
Am besten, du betest für meinen Leib und mein Leben, denn es gibt einen weiteren Umschlag mit einer Karte, auf der die Fundorte der
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