Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
Vom Netzwerk:
Gitterstäben fest und schaute hinaus in die Wüste, doch ich sah nichts, nur meilenweit vom Licht des Mondes beschienenes Ödland. Dann wieder ein Schrei – eine Frauenstimme, dieses Mal deutlich näher.
    Zwanzig Meter entfernt stolperte eine Silhouette durch die Wüste und rang nach Luft. Als sie den Ausschnitt meines Fensterrahmens halb durchquert hatte, kam von links eine zweite, größere Silhouette ins Blickfeld. Sie stürzte sich auf die kleinere Gestalt und warf sie neben einem größeren Busch zu Boden.
    Ich hörte eine weibliche Stimme weinen, schrille Schreie ausstoßen, flehen, doch es war zu weit weg, als dass ich einzelne Worte hätte verstehen können. Die größere Gestalt trat gegen die, die am Boden lag, kniete sich dann hin und stieß zu.
    Weitere Schreie, immer lauter und schriller. Plötzlich Stille.
    Nur die große Gestalt stand auf und schaute zu Boden. Gemessenen Schrittes ging sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war, und zog an langen, schwarzen Haaren hinter sich her, was sie durch die Wüste gejagt hatte. Ich hörte Schritte und das Geräusch, das durch das Hinter-sich-Herschleifen der Beute entstand. Ihre Beine zuckten immer noch.
    Plötzlich drehte die Gestalt sich um und schaute in meine Richtung. Das bläuliche und surreal erscheinende Licht des Mondes beleuchtete das Gesicht des Fremden.
    Ich erstarrte. Mein Bruder, Orson, stand lächelnd in der Wüste.

Kapitel 5
     
    Ein unglaublicher, violetter Sonnenaufgang über der Wüste beendete eine schreckliche, schlaflose Nacht. Mir war klar, dass ich von nun an immer, wenn ich meine Augen schloss, einen Mann vor Augen haben würde, der in einer vom Mond beschienenen Wüste eine Frau an den Haaren hinter sich herzieht.
    Beim Klang sich nähernder Schritte setzte ich mich im Bett auf. Ein Riegel wurde zur Seite geschoben, die Tür schwang auf und gab den Blick auf einen Mann mit meinen Proportionen frei: genauso dünn und muskulös, die gleichen stahlblauen Augen. Ähnlich, aber nicht identisch, sein Gesicht wirkte wie die Idealvorstellung meines eigenen, besser aussehend im oberen Bereich. Er stand grinsend in der Tür, und im Gegensatz zu meinem ungepflegten, angegrauten Haar hatte sein akkurat kurz geschnittenes einen so perfekten braunen Glanz, wie er nur aus der Flasche kommt. Zu seinen schwarzen Schlangenlederstiefeln und den verwaschenen Jeans trug er ein blütenweißes T-Shirt mit Schweißrändern unter den Achseln. Ich überlegte flüchtig, wieso er denn wohl so stark schwitzte, obwohl die Sonne noch nicht einmal aufgegangen war. Seine Arme waren kräftiger als meine. Während er sich gegen den Türrahmen lehnte, biss er wütend in einen dunkelroten Apfel.
    Ich brachte keinen Ton heraus. Es war, als sähe man nicht den Geist einer geliebten Person, sondern deren Dämon. Tränen brannten mir in den Augen. Das ist nicht wahr. Dieser schreckliche Mann kann nicht mein Bruder sein.
    »Ich habe dich sehr vermisst«, sagte Orson, immer noch auf der Türschwelle stehend. Ich konnte nicht anders, als weiter in seine blauen Augen zu starren.
    Orson war in unserem ersten Jahr von der Appalachian-State-Universität verschwunden, mein letztes Bild von ihm war, wie er in der Tür unseres Schlafsaals gestanden hatte.
    »Du wirst mich eine Weile nicht sehen«, hatte er gesagt. Und das hatte ich auch nicht, seit jenem Tag bis heute. Die Polizei hatte irgendwann aufgegeben. Er war einfach verschwunden. Meine Mutter und ich hatten Detektive beauftragt – nichts. Wir fürchteten, er sei tot.
    »Ich wünschte, du hättest das letzte Nacht nicht mit ansehen müssen«, entschuldigte er sich. »Schätze, es lag an dem alten Seil.« Ich bemerkte frische Kratzer an seinem Hals und in seinem Gesicht. Kleine Glitterpartikel glitzerten auf seinen Wangen, und ich überlegte, ob sie sich wohl von den Fingernägeln der Frau gelöst hatten, als diese gestrauchelt war. »Möchtest du Frühstück?«, fragte er. »Kaffee läuft gerade durch.«
    Ich schauderte angewidert. »Machst du Witze?«
    »Eigentlich wollte ich dich erst ein paar Tage lang hier drin eingesperrt lassen und mich dir erst dann zu erkennen geben, aber nach letzter Nacht macht das wohl keinen Sinn mehr, oder?«
    Schweiß lief mir die Schläfen herab.
    Orson biss erneut in seinen Apfel und ging dann den kurzen Flur zurück. »Komm«, sagte er.
    Ich stieg von meinem Bett herab, verließ das Zimmer und folgte ihm in den vorderen Teil der Hütte. Meine Beine waren wie Pudding, so als

Weitere Kostenlose Bücher