Bruderkampf
unsere Flotte die französische Front an zwei Stellen gespalten hat.« Er blickte von einem blutbespritzten Gesicht zum anderen. »Rodney hat die französische Linie aufgebrochen, hören Sie nicht?«
Bolitho fühlte einen Lufthauch an der Wange. Eine leichte Brise kam auf. De Grasse war also geschlagen. Seine Augen wanderten zur schräg liegenden Phalarope hinüber. Beinahe wären ihm die Tränen gekommen. Waren alle diese Opfer nun umsonst?
Herrick zog ihn am Arm. »Sehen Sie, Sir! Da drüben!«
Der auffrischende Wind schob den Rauchvorhang beiseite, der Blick auf die kämpfenden, schwer mitgenommenen Schiffe wurde frei. Bolitho sah den Umriß des großen Dreideckers.
Seine Kanonen waren noch immer ausgerannt. Kein feindlicher Treffer hatte den Anstrich verletzt, er schimmerte unverletzt.
Während des Gefechts hatte der Dreidecker, zum Kampf nicht willens oder nicht fähig, dem Inferno untätig zugeschaut. Seiner schweren Bestückung war kein Brite zum Opfer gefallen.
Dennoch flatterte über der französischen Flagge des Dreideckers eine zweite. Die Flagge, die auch über der entmasteten Cassius und an Bord der Ondine flatterte, die auf der Phalarope stand und auf der siegreichen Volcano, die sich jetzt durch die letzte Rauchbank schob.
Herrick fragte trocken: »Brauchen Sie noch mehr, Sir? Der Dreidecker ergibt sich Ihnen.«
Bolitho nickte und kletterte über das Schanzkleid. »Wir wollen die Phalarope in Fahrt bringen, Mr. Herrick. Obwohl ich fürchte, daß sie nie wieder in den Kampf segeln wird.«
»Es gibt noch andere Schiffe, Sir«, sagte Herrick.
Bolitho schwang sich über das Schanzkleid der Phalarope.
Auf der Gangway ging er langsam an den erschöpften, schweißüberströmten Kanonieren vorbei, die zu ihm aufsahen.
»Andere Schiffe?« Er berührte die zersplitterte Reling und lächelte traurig. »Aber keins wie sie, Mr. Herrick.« Er schob den Hut nach hinten und blickte zur Flagge hinauf. »Aber keins wie die Phalarope !«
Epilog
Leutnant Thomas Herrick zog den Uniformmantel enger um die Schultern und griff nach seiner kleinen Reisetasche. Die Häuser rings um den mit Kopfsteinen gepflasterten Platz bedeckte hoher Schnee. Der starke Wind, der von der Falmouth Bay hereinwehte und ihm durch Mark und Bein drang, verriet Herrick, daß es noch mehr Schnee geben würde. Er sah einen Augenblick zu, wie die Stallburschen die dampfenden Pferde in den Gasthaushof führten. Die mit Schlamm bespritzte Kutsche, die Herrick eben verlassen hatte, stand einsam und leer da.
Durch die Fenster des Gasthofs leuchtete ein freundliches Feuer, drangen Stimmen und Gelächter.
Herrick spürte die Versuchung, hineinzugehen und sich zu den unbekannten Leuten zu gesellen. Nach der langen Fahrt von Plymouth – und den vier Tagen, die er schon davor auf der Straße verbracht hatte – war er müde und abgespannt. Doch als sein Blick zu der in Nebel gehüllten Pendennis Castle hinaufwanderte und über die nackten Hügel dahinter, wußte er, daß er sich nur etwas vormachte. Er kehrte dem Gasthof den Rücken und ging die Gasse hinauf. Er hatte alles viel größer in Erinnerung. Sogar die Kirche samt ihrer niedrigen Mauer und den windschiefen Grabsteinen auf dem Friedhof schien seit seinem letzten und einzigen Besuch geschrumpft zu sein. Er trat zur Seite und in einen Schneehaufen, als zwei Kinder unter lautem Geschrei an ihm vorbeistürmten, hinter sich einen primitiven Schlitten. Sie sahen Herrick nicht an. Auch das war anders als beim vorigen Mal.
Ein Windstoß peitschte Herrick den Schnee von einer niedrigen Hecke ins Gesicht, und er beugte den Kopf. Als er wieder hochschaute, erblickte er das alte Haus, groß und grau, so wie es ihm die ganze Zeit über vor Augen gestanden hatte. Er schritt schneller aus, plötzlich nervös und unsicher.
Eine Glocke ertönte im Haus. Gerade als er den schweren eisernen Griff losließ, ging die Haustür auf, und eine hübsche blonde Frau in dunklem Kleid und weißer Haube trat grüßend zur Seite, um ihn einzulassen.
»Guten Tag, Ma'am«, sagte Herrick unsicher. »Mein Name ist Herrick. Ich komme geradewegs von der anderen Seite Englands.«
Sie nahm ihm Mantel und Hut ab und betrachtete ihn mit einem merkwürdigen, unterdrückten Lächeln. »Das war eine lange Reise, Sir. Der Herr erwartet Sie.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür am Ende der Halle, und Bolitho kam in die Diele, um ihn zu begrüßen. Einige Sekunden standen sie sich schweigend gegenüber, in einem
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