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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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nickte, deutete er auf eine Tür am Ende des kurzen Flures. »Wenn Sie Begleitung wollen …«, begann er, doch Pablo schüttelte den Kopf und ging langsam und mit hängenden Schultern auf die Tür zu.
    Clara sah ihm traurig nach.
    Der Arzt jedoch wandte sich erneut an sie. »Hätten Sie noch einen Augenblick Zeit für mich?«, bat er. Clara riss sich vom Anblick Jakob Schellings los und meinte: »Was gibt es denn noch?«
    Der Arzt zögerte, dann sagte er: »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Dazu müssen wir jedoch auf die andere Station, in die Abteilung, in der Frau Imhofen untergebracht war.«
    Clara sah Willi unschlüssig an.
    Er nickte: »Ich bleibe hier und warte auf ihn.«
    Der Arzt ging schon voraus: »Es dauert nicht lange«, sagte er.
    Sie gingen einen langen Gang entlang, dann nach draußen, überquerten einen stillen Platz, der von Bäumen umgeben war, und kamen in ein anderes Gebäude. Ein rot gestrichener Flur, terrakottafarbenes Linoleum, nagelneu und vor Sauberkeit blitzend.
    Der Arzt, der sich inzwischen als Dr. Johansen vorgestellt hatte, öffnete die Tür zu einem der Zimmer, die vom Flur abgingen.
    Clara fiel als Erstes das massive Gitter vor dem Fenster auf und die hohe Mauer davor, schwach erleuchtet von einem Scheinwerfer. Sie atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Hierher hatte man sie also gebracht, nach der Verhaftung. Hatte sie auf Clara gewartet? Hatte sie noch gehofft, eine Zeitlang wenigstens, oder war es längst schon vorbei gewesen, und sie hatte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt gewartet? Clara würde es nicht mehr erfahren. Ruths Worte in ihrem letzten Brief fielen ihr wieder ein: … bald werde ich wie Maja sein, so wie sie heute Morgen von der Decke hing, eine leere Hülle, mit Augen aus Glas. Und mit nackten Füßen …
    »Hatte sie Schuhe an?«, fragte sie den Arzt unvermittelt.
    »Äh, wie bitte?« Dr. Johansen sah sie leicht irritiert an.
    »Schuhe«, wiederholte Clara. »Trug sie Schuhe, oder war sie barfuß?«
    Er überlegte. »Ich weiß es nicht. Aber ich kann es in Erfahrung bringen, wenn es wichtig für Sie ist.«
    Clara winkte ab. Es war nicht wichtig.
    Dr. Johansen deutete an die Wand, an die ein einfaches Bett geschoben stand. Es war abgezogen, und die nackte Matratze trieb Clara erneut die Tränen in die Augen. Sie schluckte schwer und versuchte, sich zusammenzureißen. Über dem Bett, dort wo der Arzt hinzeigte, stand etwas geschrieben. Mit großen roten Buchstaben, tief in die Wand eingekratzt.
    »Das ist eine Nachricht für Sie, glaube ich«, sagte er. »Sie heißen doch Clara, nicht wahr?«
    Clara nickte und ging näher heran. Für Clara!, stand ganz oben in großen Buchstaben mit Ausrufezeichen. Clara las die Zeilen, langsam, Wort für Wort. Dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Die Tränen rannten ihr über die Wangen, und sie wischte sie nicht weg. Es war ihr auch egal, dass der Arzt neben ihr stand und sie beobachtete. Sie hatte Ruths Flüstern wieder vor Augen. Und Pater Romans Worte, als sie ihn nach dem Grund gefragt hatte. »Es hilft ihr, nicht verrückt zu werden«, hatte er gemeint, »es hilft ihr, ihren Geist zu wappnen und nicht zu zerbrechen.«
    Ein Gedicht. Es war ein Gedicht, das Ruth geholfen hatte zu überleben. Und während Clara dastand und mit blinden Augen auf die Worte an der Wand starrte, fragte sie sich, weshalb sie nicht früher darauf gekommen war. Der Gedichtband in Ruths Versteck, verborgen wie ein kostbarer Schatz, die bildhafte Sprache der Dichterin, ihr Spiel mit Farben. Warum hatte Clara nur nie danach gefragt, was Ruth vor sich hin murmelte? Diese Worte waren der Zugang zu Ruths Geist gewesen, der Schlüssel zu ihrer Seele. In einer feindseligen Wirklichkeit, in der sie gezwungen war, sich immer weiter in sich zurückzuziehen, hatten diese Worte einen Spalt offen gelassen, einen winzigen, geheimen Zugang, der jedoch ihre Rettung bedeutet hatte. So hatte sie in all den Jahren überlebt.
    Und Clara hatte nicht danach gefragt.
    Sie wusste genau, warum. Weil sie Angst gehabt hatte. Sie hatte Angst davor gehabt, dass dieses Flüstern doch bedeuten könnte, dass Ruth verrückt war. Sie hatte Angst davor gehabt, selbst verrückt zu werden, so als ob es sich um eine ansteckende Krankheit handelte. Nichts fürchten die Menschen mehr, als den Verstand zu verlieren. Und Ruth hatte das erkannt. In ihrer hellsichtigen Art, die Menschen zu durchschauen, hatte sie begriffen, dass sie, obwohl hilflos und weggesperrt, von

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