Brudermord
…«, warf Clara vergeblich ein. Dr. Lerchenberg hatte schon aufgelegt.
Als wenige Minuten später unten bei Linda, der Sekretärin, das Fax zu rattern begann, sprang Clara auf und rannte neugierig die drei Stufen hinunter, die den Arbeitsbereich von ihr und Willi Allewelt, Claras Sozius und Freund, vom Sekretariat trennte. Ihre Kanzlei war in einer ehemaligen Buchhandlung untergebracht, die Clara damals, vor einigen Jahren, als sie sich Hals über Kopf in die Selbstständigkeit stürzte, vornehmlich aus Geldmangel weitgehend unverändert belassen hatte. Mittlerweile hatten sich alle daran gewöhnt und die Eigenheiten ihrer Kanzlei lieb gewonnen, und so war es bis heute bei dem großen Schaufenster und dem offenen Raum auf zwei Ebenen, der zwar wenig Privatsphäre, dafür aber viel Ablenkung bot, geblieben. Im oberen Stockwerk, das man über eine offene Holztreppe erreichte, war noch ein weiterer Raum untergebracht, der ein wenig mehr Diskretion bot: das Besprechungszimmer.
Das Fax kam tatsächlich von Schloss Hoheneck und war nichts weiter als die Kopie der Ladung zum heutigen Termin beim Vormundschaftsgericht. Kein Begleitschreiben, keine Erklärung. Nicht einmal der Antrag, mit dem die Notwendigkeit einer Betreuung begründet wurde. Aber wenigstens wusste Clara jetzt den Namen der Patientin und das Aktenzeichen. Ruth Imhofen stand dort, geboren am 2. April 1960 in München. Clara hob die Augenbrauen. Die Frau war erst 47 Jahre alt. Weshalb benötigte sie eine vormundschaftliche Betreuung? Wahrscheinlich war sie psychisch krank. Clara nahm das Papier mit zu ihrem Schreibtisch. Die Einzelheiten würde sie hoffentlich heute Nachmittag erfahren. »Ich kann es nicht fassen, dass ich mich habe breitschlagen lassen«, sagte sie, an Elise, ihre große graue Dogge gewandt, die neben ihrem Stuhl auf einer alten Matratze döste und bei Claras Worten den Kopf hob. Clara strich ihr über den faltigen, weichen Nacken: »Was hältst du von einem kleinen Spaziergang?«
Nicht viel, besagte Elises Miene, und ihr Kopf sank zurück auf ihre großen Pfoten. Demonstrativ schloss sie die Augen.
»Na, komm schon!« Clara zupfte sie am Ohr. »Es gibt nachher auch ein Croissant bei Rita.«
Elise horchte auf. Rita’s Café ein paar Häuser weiter war das Lieblingscafé aller Mitarbeiter der Kanzlei Niklas & Allewelt, Elise mit eingeschlossen. Ihr Augenmerk richtete sich dabei jedoch weniger auf Rita als auf die Schwingtür, die zur Küche führte, aus der so mancher Leckerbissen kam und für sie abfiel, und die täglich frischen Croissants, die eigentlich Cornetti hießen, weil Rita Italienerin war. Mit derartigen Aussichten geködert, erhob sich Elise gähnend von ihrer Ruhestatt, streckte ausgiebig ihre langen Glieder und trabte Clara hinterher.
Nach den letzten verregneten Tagen hatte sich die Sonne heute erbarmt. Mit aller Kraft schickte sie ihre schwächer werdenden Strahlen auf die Stadt hinunter und brachte die Luft noch einmal zum Leuchten. Clara mochte den Herbst. Sie hatte nichts gegen stürmisches Wetter und konnte sogar dem Nebel mitunter etwas abgewinnen. Am liebsten aber waren ihr Tage wie heute. Es störte sie nicht, dass es trotz des sonnigen Wetters schon empfindlich kühl war und überall das Laub in den Rinnsteinen lag. Sie hob eine glänzende Kastanie auf und schob sie sich in die Tasche. Früher, als ihr Sohn Sean noch klein gewesen war, hatte sie auf ihren Spaziergängen immer die schönsten Kastanien aufgehoben und ihm mitgebracht. Oder sie waren zusammen in den Englischen Garten geradelt und hatten eine ganze Einkaufstüte davon gesammelt. Manchmal hatten sie auch Drachen steigen lassen: Sean hatte einen ganz einfachen, kleinen Drachen in Form eines Raubvogels gehabt. Hochkonzentriert, die Schnur fest in den Fäusten, hatte er zugesehen, wie sich sein Adler immer höher schraubte und dann, als er fast nur als glänzender Punkt zu sehen war, hatte er seiner Mutter stolz zugelächelt. Clara zündete sich eine Zigarette an und marschierte mit Elise an ihrer Seite die Straße entlang. Sie gingen ein gutes Stück, bis sie zu der hohen Mauer gelangten, die den alten Südfriedhof umschloss. Mitten in der Stadt gelegen, bot der kleine, längst aufgelassene Friedhof eine Insel der Ruhe und war einer von Claras Lieblingsplätzen. Sie drückte das schmiedeeiserne Tor auf und ignorierte dabei, wie jedes Mal, wenn sie hierherkam, das ausdrückliche Hundeverbotsschild, das dort angebracht war. Solche Verbote ließ sie
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