Brudermord
Arm genommen und nie die Absicht gehabt, ihr die Dinge zu erklären? Clara schüttelte den Kopf. Das war nicht logisch. Weshalb sollte er so etwas tun? Vielleicht war ihm einfach etwas dazwischengekommen, ein Notfall. Sie ging zur Theke und fragte die junge Frau, ob jemand angerufen und eine Nachricht für sie hinterlassen hatte. Kopfschütteln antwortete ihr. Niemand hatte angerufen. Das Mädchen schürzte bekümmert die Lippen, als bedauere sie dies persönlich. Vielleicht dachte sie, Clara sei von ihrem Liebhaber versetzt worden. Clara spürte, wie sie wütend wurde. Reine Zeitverschwendung war es gewesen, hierherzukommen. Fast hatte sie es geahnt. Sie würde die verdammte Betreuung für diese unbekannte Frau nicht übernehmen. Gleich morgen früh würde sie ein Schreiben an das Gericht faxen und den Betreuerausweis zurückgeben.
Clara zahlte und holte ihren Mantel aus der Garderobe. Es war kalt und dämmerte schon, als sie mit Elise hinausging. Trotzdem beschloss sie zu Fuß nach Hause zu gehen und auf dem Weg dahin noch einen Abstecher in die Kanzlei zu machen. Vielleicht hatte Dr. Lerchenberg ja dort eine Nachricht hinterlassen. Während sie mit Elise durch die Fußgängerzone ging, hellte sich ihre Stimmung wieder auf, wie so oft, wenn sie sich an der frischen Luft bewegte. Obwohl es erst Mitte Oktober war, herrschte zwischen Stachus und Marienplatz fast schon so etwas wie Vorweihnachtsstimmung. Die Menschen hasteten mit Tüten beladen von einem beleuchteten Kaufhaus ins nächste, und aus den U-Bahnschächten drang warme, stickige Luft in den kalten Abendhimmel. Clara kaufte sich an einem Stand eine Bratwurst mit scharfem Senf und verschlang sie gierig. Die Trüffeltorte war doch ein wenig zu süß gewesen. Mit dem Rest Semmel wischte sie den Senf vom Pappteller und zündete sich dann eine Zigarette an. Zufrieden ging sie weiter, vorbei an den geschlossenen Ständen des Viktualienmarktes und an der Schrannenhalle. Am Jakobsplatz blieb sie stehen und bewunderte, wie jedes Mal, wenn sie hierherkam, die neugebaute Synagoge, die wie ein gigantischer, sandfarbener Bauklotz mitten auf dem Platz stand, asymetrisch, modern und doch so selbstverständlich, als ob sie schon immer da gewesen wäre. Ebenfalls wie immer nahm sie sich vor, demnächst einmal an einer Führung teilzunehmen, wohl wissend, dass es vermutlich bei dem guten Vorsatz bleiben würde.
Die Kanzlei war längst dunkel. Lindas Arbeitszeit endete um fünf, und Willi war ebenfalls schon gegangen. Clara sperrte die Tür auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Keine Nachricht lag dort, keiner der kleinen gelben Zettel, auf denen Linda, der die mangelnde Ordnungsliebe ihrer Chefin ein ständiger Dorn im Auge war, wichtige Nachrichten notierte und die sie mitten auf Claras Bildschirm klebte um sicherzustellen, dass sie nicht von der Papier- und Aktenflut auf dem Schreibtisch verschlungen wurden.
Unschlüssig ließ sich Clara auf den Stuhl sinken. Eigentlich sollte sie nach Hause gehen. Oder auf ein Glas Wein zu Rita. Morgen war auch noch ein Tag. Aber diese Sache ließ ihr keine Ruhe. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Schreiben, das ihr Dr. Lerchenberg gefaxt hatte. Nichts war daraus zu entnehmen, was sie nicht schon wusste. Und das war nicht mehr als der Name ihrer neuen Mandantin. Clara hob erstaunt die Augenbrauen, als sie zum ersten Mal Ruth Imhofens Adresse bewusst las: Haus Maximilian stand dort. Sie kannte diese Einrichtung, es handelte sich um ein kirchliches Wohnheim, in dem Menschen in sozialen oder psychischen Schwierigkeiten für eine gewisse Zeit unterkommen konnten, und es war nur wenige Straßen von der Kanzlei entfernt. Sie konnte morgen auf dem Weg zur Arbeit direkt dort vorbeigehen. Natürlich nur, wenn sie den Fall übernähme, fügte sie in Gedanken einschränkend dazu.
Clara schob das Schreiben zurück in ihre Tasche und ließ sich über die Telefonauskunft mit der Klinik verbinden, in der Ralph Lerchenberg arbeitete.
Eine freundliche Stimme meldete sich: »Privatklinik Schloss Hoheneck, was kann ich für Sie tun?«
Clara stellte sich vor und bat, mit Dr. Lerchenberg verbunden zu werden.
»Worum geht es bitte?« Die Frau an der Vermittlung hatte ihre professionelle Freundlichkeit schlagartig eingebüßt. Fast schien es, als wolle sie Clara sofort wieder abwimmeln.
»Eine Privatangelegenheit«, gab Clara kühl zurück. »Dr. Lerchenberg erwartet meinen Anruf.«
Nach kurzem Zögern und einem gepressten »Moment bitte« erklang
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