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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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rechnete und überlegte, in welcher Beziehung ihre Tochter zu diesem netten Jungen stehen mochte.
    »Das ist rein beruflich«, erstickte Clara alle möglichen Spekulationen ihrer Mutter im Keim, bedankte sich und wollte sich schnell verabschieden, doch ihre Mutter hatte noch etwas anderes auf dem Herzen. Sie bat Clara, einen Augenblick zu warten. Clara merkte, wie sie in ein anderes Zimmer ging, damit ihr Vater sie nicht hören konnte. Sie ahnte, was jetzt kommen würde. Und tatsächlich, der Ton ihrer Mutter war vorsichtig geworden, als sie wieder zu sprechen begann, so als würde sie sich mit einer Fackel in der Hand einem Sprengstofflager nähern.
    »Ich wollte noch mit dir über Vaters Geburtstag sprechen.«
    »Mm, ja.« Clara schloss für einen Moment die Augen. Ihr Vater hatte am 6. Dezember Geburtstag, und dies war in der Familie seit jeher der Anlass gewesen, ein großes Fest zu geben, mit Kammermusik und Gourmet-Büffet und ihrem Bruder Georg als Nikolaus, der alle geladenen Honoratioren aus Starnberg und Umgebung mit feinsinnigen Bosheiten und kleinen Aufmerksamkeiten bedachte. In diesem Jahr wurde ihr Vater fünfundsiebzig, was in Bezug auf die Größe der geplanten Festlichkeit nichts Gutes ahnen ließ.
    »Deine Schwester kommt in der nächsten Woche für ein paar Tage zu uns zu Besuch, und wir wollen bei dieser Gelegenheit gleich über die Gästeliste und das Essen sprechen. Sie wird dieses Jahr wieder das Gestalten der Einladungen übernehmen. Möchtest du nicht auch einen Abend zu uns herauskommen?«
    Clara schluckte. Diese wenigen Sätze genügten, um das vertraute schlechte Gewissen in ihr wieder hochzuspülen.
    Gesine, ihre sechs Jahre ältere Schwester, Innenarchitektin und mit einem erfolgreichen Mann und drei wohlgeratenen Kindern gesegnet, kam extra aus Hamburg angereist, um ihrer Mutter bei den Vorbereitungen für das Fest zu helfen, während Clara, die nicht einmal 50 km entfernt wohnte, wahrscheinlich eher dazu geeignet war, die Feierlichkeiten zum Platzen zu bringen.
    Clara ermahnte sich, nett zu sein: »Ich werde versuchen zu kommen!«, versprach sie und legte auf, bevor ihre Mutter noch auf die Idee kam, sie mit der Auswahl der Tischdekoration zu beauftragen.
    Der Termin beim Vormundschaftsgericht verlief unspektakulär und für Clara wenig erhellend, da die Richterin selbstverständlich davon ausging, dass Clara über den Sachverhalt Bescheid wusste und sich deshalb nur auf die Aktenlage bezog. Clara ließ sie in dem Glauben und nahm am Ende mit gemischten Gefühlen den Betreuerausweis für Ruth Imhofen entgegen, den die Richterin ihr überreichte. Umso gespannter machte sie sich auf den Weg zum verabredeten Treffpunkt.
     
    Das Café am Botanischen Garten war nur ein paar Schritte vom Gericht entfernt und hob sich wohltuend altmodisch vom durchgestylten Einheitsbrei moderner Café-Lounges ab. Samtbezogene Stühle und Kronleuchter an der hohen Stuckdecke erinnerten an Wiener Kaffeehäuser, die aktuellen Tageszeitungen hingen in Zeitungshaltern an der Wand, und klassische Klaviermusik erklang diskret aus dem Hintergrund. In der Vitrine am Eingang türmten sich Torten und Kuchen in verschwenderischer Fülle und ließen Clara den Grund für ihren Besuch einen Augenblick lang vergessen. Nach eingehender Betrachtung aller Köstlichkeiten bestellte sie bei der rundlichen Bedienung eine Trüffel-Schokoladentorte. Dann suchte sie sich einen Tisch, der sowohl Platz für ihren Hund bot als auch einen guten Rundumblick, um Dr. Lerchenberg nicht zu verpassen. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wie der Arzt aussah, außer dass er laut ihrer Mutter um einiges jünger sein musste als sie selbst. In dem gut besetzten Café gab es jedoch keinen einzigen Mann, der alleine an einem Tisch saß, deshalb vermutete Clara, dass er sich verspätet hatte. Er würde jeden Moment kommen. Nach Genuss der Schokoladentorte und zwei Tassen Kaffee wurde Clara unruhig. Es war bereits kurz nach halb fünf, und niemand war gekommen. Das Café hatte sich merklich geleert, außer Claras Platz waren nur noch zwei andere Tische am Fenster besetzt. Sie stand auf und warf zum wiederholten Mal einen Blick in das Nebenzimmer. Bis auf eine alte Dame mit blaugrauer Dauerwelle und einem Pudel mit ähnlicher Haartracht war es völlig leer.
    Langsam ging sie zurück an ihren Tisch, unter dem Elise zufrieden schnarchte. Dr. Lerchenberg hatte seine Verabredung nicht eingehalten. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er sie womöglich auf den

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