Bruderschatten
dem sich der aus der Haft entlassene Sexualstraftäter Roland Koslowski im Haus seines Bruders erhängte, rief er mich beim Hamburger Blatt an und schlug mir ein Interview vor.
Ich war im dritten Monat schwanger und nicht gerade versessen darauf, mit einem Mann zu sprechen, der Kinder vergewaltigt und ermordet hatte. Deshalb war ich auch alles andere als begeistert.
»Ich biete Ihnen ein Exklusivinterview an. Ich rede nur mit Ihnen, mit niemand anderem«, sagte er schließlich. »Allerdings werden Sie keine Zeile veröffentlichen. Das ist die Bedingung.«
»Wozu dann das Interview?«
Koslowski lachte. »Das werden Sie schon sehen. Heute Nachmittag um zwei. Das ist Ihre einzige Chance.«
Er nannte mir die Adresse und legte auf.
Erstaunt hielt ich noch einen Moment lang den Hörer an mein Ohr. Ich sollte keine Zeile veröffentlichen? Ich war Journalistin, genauer gesagt Gerichtsreporterin. Während meiner gesamten beruflichen Tätigkeit war mir so etwas noch nicht passiert, doch es machte mich neugierig. Zumal Koslowski in den vergangenen vier Monaten seit seiner Haftentlassung jedes Interview abgelehnt hatte, obwohl ihm diverse Klatschblätter horrende Summen geboten hatten. Es ging ihm also weder um Publizität noch um Geld. Er wollte etwas anderes, und er wollte es von mir.
Was aber versprach er sich? Unsere einzige Gemeinsamkeit bestand darin, dass wir beide in Solthaven aufgewachsen waren.
Die Polizei hatte Roland Koslowski im Herbst 1989 nach jahrelanger Fahndung noch in der damaligen DDR festgenommen. Während des Prozesses im Jahr darauf konnten ihm alle sechs zur Last gelegten Sexualmorde nachgewiesen werden, und nach bundesdeutschem Recht wurde er zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der Richter versäumte jedoch, eine Sicherungsverwahrung in das Urteil aufzunehmen. Ein dramatischer Verfahrensfehler, denn das kurz vor Koslwoskis Haftende eingeholte psychiatrische Gerichtsgutachten bescheinigte ihm eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 80 Prozent. Trotzdem besaß das zuständige Gericht im Nachhinein keinerlei Handhabe, eine lebenslange Verwahrung anzuordnen, und bewilligte die Freilassung in dem Wissen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Koslowski wieder vergewaltigen und morden würde.
In einem spektakulären Eilverfahren beantragte die Staatsanwaltschaft eine Prüfung des Falls vor dem Bundesgerichtshof. Doch auch die Richter am obersten deutschen Gericht konnten lediglich Koslowskis Freilassung bestätigen. Eine lebenslange Sicherungsverwahrung durfte nachträglich nur dann angeordnet werden, wenn der Gefangene während der Haft neue schwerwiegende Delikte begangen hatte. Koslowski jedoch hatte stets als mustergültiger Häftling gegolten, auch wenn er jede Therapie verweigert hatte.
Nach der Entlassung war Koslowski zurück in die Nähe von Solthaven zu seinem älteren Bruder Ludger gezogen. Bereits einen Tag später organisierte eines der Gemeinderatsmitglieder eine Art Bürgerwehr, die Tag und Nacht vor dem Haus wachte. Zahlreiche Bewohner fanden sich immer wieder zu lautstarken Protestdemonstrationen ein, und die Polizei hatte eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung abgestellt, die den Staat monatlich mehr als 100.000 Euro kostete, was den Zorn der Bürger zusätzlich schürte.
Mein Chef Cornelius Bluhm telefonierte, als ich sein Zimmer betrat. Es war ein Eckzimmer mit viel Chrom und Glas und mit Blick auf den Hamburger Hafen, Containerschiffe und Lotsenboote, auf Terminals und Brücken, Trucks und Lastkräne. Normalerweise ein spektakuläres Bild. An diesem Wintermorgen jedoch hing ein Schneeschleier davor und nahm ihm jede Kontur.
Auf dem Schreibtisch stand ein riesiger milchweißer iMac, hinter dem Cornelius trotz seiner beachtlichen Größe fast verschwand.
Als er mich hörte, schob sich sein Kopf hinter dem Monitor hervor, braune Mähne, unrasiert, Schatten unter den lichtblauen Augen. Sein üblicher Anblick nach einer Nachtschicht. Dazu wedelte ein Arm, ich möge mich auf den Freischwinger vor seinem Schreibtisch setzen.
Ein Zeigefinger stach auf sein iPhone ein. »Lisabeta«, formten Cornelius’ Lippen tonlos.
»Bitte, Lisabeta, versuch den Termin zu verschieben. Die Musiklehrerin ist krank, und er hat eine Stunde eher Schulschluss«, wiederholte Cornelius.
Seit dem frühen Tod seiner Frau zog Cornelius seinen inzwischen achtjährigen Sohn Christopher allein groß, unterstützt von jährlich wechselnden Au-pair-Mädchen – im Moment war es die Dänin Lisabeta – und seiner Haushälterin
Weitere Kostenlose Bücher