Bruderschatten
Irma.
Ich kannte mich mit Au-pair-Mädchen aus. Mein zehnjähriger Sohn Max hatte fünf verschlissen, bevor wir gemeinsam entschieden, es ohne sie zu versuchen. Jetzt zockelte er morgens allein in die Schule, mittags in den Hort und nachmittags um vier wieder nach Hause.
Ein wenig nach vorn gebeugt saß ich auf dem schwarzen Lederstuhl – strenges Bauhausdesign, schaurig unbequem, aber großartig anzusehen –, lauschte der Auseinandersetzung und hoffte, Lisabeta würde endlich nachgeben.
Mir war übel. Seit ich schwanger war, überkam mich manchmal diese Morgenübelkeit, besonders wenn ich mich aufregte.
Auf dem Boden entdeckte ich eine Wasserflasche, nahm sie und trank gegen die Übelkeit.
Ich durfte das. Cornelius und ich kannten uns seit unserer Kindheit. Wir hatten schon unsere Schulbrote getauscht und später unsere ersten, heimlichen Zigaretten miteinander geteilt.
Aufgewachsen waren wir in Solthaven, einer Kleinstadt von 24.000 Einwohnern, deren Ursprung bis ins neunte Jahrhundert zurückreichte. Sie lag an der Bundesstraße 71, die bereits seit 1843 als preußische Staatsstraße Nr. 86 Magdeburg mit Uelzen verband. Über 40 Jahre lang allerdings endete diese Straße an der innerdeutschen Grenze, fünf Kilometer von Solthaven entfernt. Die jahrzehntelange isolierte Lage hatte für die Stadt zwei Konsequenzen: eine unberührte Natur im ehemaligen Grenzgebiet westlich der Stadt und eine stagnierende Einwohnerzahl, denn kaum jemand zog freiwillig dorthin. Allerdings zogen auch nur wenige weg. Zwar gingen die Abiturienten zum Studium in große Universitätsstädte wie Berlin, Hamburg oder Leipzig, doch sobald sie ihr Diplom in der Tasche hatten, kehrten viele von ihnen nach Hause zurück. Ich war eine von denen, die gegangen waren, um nicht zurückzukommen. Und das aus einem guten Grund: Für die meisten Solthavener war ich die Schwester eines Mörders.
Cornelius verdrehte beim Telefonieren die Augen. Lisabeta hatte einen Augenarzttermin und konnte Chris nicht abholen. Irma sollte aushelfen, doch schlecht gelaunt, zettelte sie ebenfalls eine Diskussion an.
Ich lächelte. So war er eben, der Alltag von Alleinerziehenden.
Wir hatten nie darüber gesprochen, weshalb Cornelius nach dem Studium nicht nach Solthaven zurückgekehrt war. Vielleicht, weil er die Enge von Kleinstädten nur schwer ertrug. Vielleicht war es aber auch viel simpler: Hamburg war eine Medienstadt. Die größten deutschen Zeitschriftenverlage residierten hier in ihren Stammhäusern, auch wenn ein paar Zeitungsredaktionen längst nach Berlin umgezogen waren. Doch wollte man als Journalist Karriere machen, gab es nach wie vor keinen geeigneteren Ort als die Hafenstadt an der Elbe.
»Okay, okay, reg dich nicht auf. Ich kümmere mich selbst.«
Cornelius legte auf.
»Du brauchst gar nicht so hämisch zu grinsen. Wart’s nur ab, wie es wird, wenn du dein Baby hast. Au-pairs, deren Termine unmöglich verschoben werden können, und mürrische Haushälterinnen, die man seit fünfzehn Jahren beschäftigt und die auf einmal zickig werden, weil eine Jüngere im Haus ist. Und jetzt muss ich Chris heute Mittag selbst von der Schule abholen.«
»Nicht meine Baustelle.«
»Und um was geht’s bei dir?«
»Roland Koslowski hat mir für heute Nachmittag ein Exklusivinterview angeboten unter der Bedingung, dass ich keine Zeile veröffentliche.«
Ich musste Cornelius nicht erklären, wer Koslowski war. Der Mann hatte vor 20 Jahren gestanden, unsere Schulfreundin Claudia missbraucht und getötet zu haben. Außerdem sorgte Koslowski seit seiner Haftentlassung vor vier Monaten erneut für einen Medienrummel, denn drei Tage später war eine junge Frau in Solthaven vergewaltigt und ermordet worden. Auch wenn Koslowski durch die Rund-um-die-Uhr-Bewachung ein wasserdichtes, zumal von der Polizei bestätigtes Alibi besaß, waren die Gerüchte doch nie verstummt, er hätte etwas mit dem Mord zu tun.
»Was soll der Schwachsinn?«, fragte Cornelius. »Keine Zeile veröffentlichen?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Was kann er machen, wenn ich es doch veröffentliche?«
»Nichts?«
»Eben.«
Cornelius nickte.
»Wie lange warst du gestern noch hier?«, fragte ich ihn mit Blick auf seine dunklen Ringe unter den Augen.
»Kurz vor Mitternacht.«
»Und wann bist du heute früh reingekommen?«
Kurzes Schweigen.
»Wird das jetzt ein Verhör?«
Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Lass es, bitte. Ich kann diese Diskussionen nicht mehr ertragen. Ich habe
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