Bruderschatten
über einen Prozess. Wie sieht’s aus?«
Ich musste lächeln. »Ich steh also in deiner Schuld.«
»Yep.«
»Ich denk drüber nach«, sagte ich und lächelte. »Ich muss jetzt los. Bring mir die Ausdrucke nachher vorbei, okay?«
»Vergiss mich nicht«, sagte er.
Begleitet von seinem Lachen verließ ich den Raum und ging zurück in mein Büro.
Auf meinem Monitor hatte sich inzwischen der Bildschirmschoner aktiviert und zeigte ein Foto meines Sohnes Max.
Ich betrachtete sein Gesicht und musste lächeln. So ging es mir immer. Wenn ich traurig oder angespannt war, brauchte ich nur dieses Foto anzusehen, und sofort ging es mir besser. Auf dem Bild trug Max eine rote Jacke, die ihm längst nicht mehr passte. Er hatte seinen Mund zu einer Schnute verzogen und starrte konzentriert in die Kamera. Seine Haare waren inzwischen nicht mehr so hellblond wie auf dem Foto, das kurz nach unserem Ostseeurlaub letzten Sommer entstanden war, aber das freche Funkeln in seinen grauen Augen war noch immer dasselbe. Wenn ich ihn ansah, konnte ich manchmal kaum glauben, dass ich die Mutter dieses zehnjährigen Wunders war.
3
Das Dossier hielt mich länger auf als erwartet. Doch Cornelius nahm es gelassen, als ich ihm mitteilte, dass ich der Morgenkonferenz fernbleiben würde.
Gegen zehn fuhr ich los, die Sitzheizung auf vier gestellt, die Klimaanlage auf 26 Grad. Ich wusste nicht, wie lange ich bei dem anhaltenden Schneefall für die 160 Kilometer bis Solthaven brauchen würde, und ich wollte es zumindest warm und gemütlich haben. Die Straßenlage war katastrophal, und es war mit Blitzeis, Schneeverwehungen und Staus zu rechnen.
Ich rief Alex vom Auto aus an. Er war nicht sehr begeistert, als ich ihn bat, Max von der Schule abzuholen.
»Du weißt doch genau, dass ich mit Kindern nichts anfangen kann«, sagte er mit kaum unterdrücktem Ärger. Damit hatte ich gerechnet.
»Irgendwann müsst ihr euch mal besser kennen lernen. Warum nicht auf der Fahrt zu meinem Vater?«
»Es geht nicht anders, oder?«, fragte er nach, obwohl er die Antwort längst kannte.
»Nein.«
»Julie, ich tue das für dich. Aber das nächste Mal fragst du mich erst und verplanst mich nicht einfach. Könnten wir uns darauf einigen?«
Grundsätzlich hatte er Recht, und ich maßte mir gemeinhin auch nicht an, über das Leben anderer zu verfügen. Doch es war eine Ausnahme. Außerdem hatten wir ohnehin geplant, heute zu dritt zu meinem Vater zu fahren, sobald Max aus der Schule kam. Insofern konnte keine Rede davon sein, dass ich Alex verplant hatte. Ich behielt diesen Gedanken jedoch für mich, entschuldigte mich vielmehr, gelobte Besserung und erklärte Alex dann, wo die Schule lag und wie er Max finden konnte. Danach machte ich ein Kussgeräusch, hoffte das Beste und legte auf.
Ich hatte solche Konflikte zwischen uns schon mehrmals erlebt. Sie entsprangen seiner stets lauernden Abwehr gegen zu viel Nähe und zu viel Familie. Ich hatte Verständnis, denn ich kannte dieses Verhalten von mir selbst. Dennoch ermutigte es mich nicht besonders, ihm von meiner Schwangerschaft zu erzählen. Ich konnte nicht einschätzen, wie es mit uns weitergehen würde, sobald er es erfuhr. Ich wusste, was ich mir wünschte. Aber reichte das, um gemeinsam glücklich zu werden?
Alex arbeitete freiberuflich für ein Fernsehmagazin, und wir waren seit einem Jahr zusammen. Bei einem Empfang des Hamburger Senats war ich in ihn hineingerannt, als ich mich auf der Suche nach dem kalten Buffet durch die Menschenmenge schob und er gerade einen Beitrag über die Wahlen und die neue Bürgerschaft drehte. Wir hatten geplaudert und schließlich unsere Visitenkarten ausgetauscht. Einen Tag später rief er mich an und lud mich zum Essen ein. Es war angenehm und leicht gewesen, mit ihm zu reden, und ich nahm an, das, was er hörte, hatte ihm gefallen. Das, was er sah, wohl auch, denn wir gingen noch am selben Abend miteinander ins Bett. Alex war ein Frauentyp, mittelgroß, kernig, durchtrainiert, mit leuchtend blauen Augen, kurzen blonden Haaren und mit jeder Menge Lachfalten.
Nach unserer ersten gemeinsamen Nacht erwachte ich in jener frühen Stunde des Morgens, wenn das Zwielicht die nächtlichen Schatten verdrängt. Ich hatte am Vorabend zu viel getrunken, Sodbrennen plagte mich, und unerträglicher Durst zwang mich aufzustehen, um im Bad Wasser gleich aus dem Hahn zu trinken. Als ich zurückkam, betrachtete ich den Mann, dessen Körper gekrümmt unter der Decke lag, die Knie fast bis
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