Bruderschatten
dem man es nie erwartet hätte.
Ich war erschöpft von dem Tag, müde von der Fahrerei, noch immer aufgewühlt von der Begegnung mit Koslowski und mit Margo auf dem Friedhof. Zu allem Übel machten sich die Kopfschmerzen bemerkbar.
Alex sah mich immer noch an – und dann traf mich ein Schock.
»Ich weiß nicht, ob ich damit klarkomme, mich ständig mit einem Toten vergleichen zu lassen.«
Er sagte es ganz ruhig, ohne jede Emotion, und das war das Schlimmste.
Ich konnte nichts darauf erwidern.
Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht geschah das, auch wenn ich es nicht wollte. Vielleicht …
Ich schüttelte den Kopf. Es war nicht okay. Gar nichts war hier okay. Ich wollte ihm heute erzählen, dass er Vater würde, dass ich eine Familie mit ihm gründen wollte – und jetzt das.
Die Situation war absurd.
Alex erhob sich vom Bett. »Lass uns essen gehen.«
16
Henny Langhoff stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete Hinner und Jan mit zusammengepressten Lippen. Hinner trug den Jungen zu seinem dunkelgrünen Landrover, der im Dunkeln vor dem Haus stand. Er setzte ihn vor der Beifahrertür ab und öffnete sie. Im Wagen wurde es hell, und Jan sah zurück zum Haus, das sich vor dem Abendhimmel abzeichnete wie ein Schattenriss. Henny winkte.
Hinner half Jan auf den Beifahrersitz. Er stellte den gesunden Fuß ab, zog den verletzten nach und schnallte sich an.
»Wo ist der Rucksack?«, fragte Hinner.
Jan schüttelte den Kopf.
»Hat Henny ihn?«
Der Junge zuckte mit den Achseln.
Hinner drehte sich zu Henny um. »Wo ist sein Rucksack?«
»Vielleicht oben?«, rief Henny zurück.
Hinner beugte sich in das Auto hinein, den Kopf dicht an Jans, so dass er den warmen Atem auf der Wange spürte.
»Ich frage nur noch ein Mal«, sagte er. »Wo ist dein Rucksack?«
Dann zischte er etwas, das Jan das Blut in den Adern gefrieren ließ: »Du wirst tun, was ich dir sage. Den Rest deines Lebens wirst du tun, was ich dir sage. Hast du das verstanden? Denn wenn du es nicht tust, dann tue ich Pauline und deiner Mutter etwas an, und das willst du doch nicht, oder?«
Wie in Zeitlupe streckte Jan den Arm aus und zeigte auf den Garten.
Hinner zerrte ihn aus dem Auto. Der Junge biss die Zähne aufeinander und humpelte vor seinem Onkel her den Weg entlang zurück zum Haus.
Vor der Eingangstür blieb er stehen und zeigte nach rechts. Der Onkel stapfte durch den Schnee, blieb stehen, bückte sich und hob den Rucksack auf.
»Zurück zum Auto«, sagte er und drehte sich noch mal zu Henny um.
»Tut mir leid, dass ich laut geworden bin, aber die Nerven. Du verstehst schon.«
Henny nickte. Dann hob sie die Hand und winkte ihnen erneut zu.
Der Onkel zog ihn hinter sich her zurück zum Auto. Jan sah sich noch einmal um. Henny war im Haus verschwunden.
17
Beim Abendessen ignorierte mich Max, dafür war Alex so charmant, als hätte es unser Gespräch nie gegeben. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich es abgeklärt, merkwürdig oder bewundernswert finden sollte.
»Noch jemand einen Kloß, Lamm oder Rotkohl?« Adam sah uns vom Herd her der Reihe nach an.
Alex hielt ihm den Teller hin, Max wollte einen Nachschlag, und ich schüttelte den Kopf.
Im Wohnzimmer läutete das Telefon.
»Gehst du bitte ran?«, fragte Adam, und ich nickte.
»Bei Lambert«, meldete ich mich.
»Sind Sie das, Julie?«, fragte eine tiefe, kratzige Stimme, die mir bekannt vorkam, die ich jedoch nicht einordnen konnte. »Felix Kortner hier.« Es folgte eine kurze Pause. »Hauptkommissar Kortner. Sie erinnern sich?«
»Ja«, sagte ich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich muss Sie morgen früh dringend sprechen. Allein. Nur wir zwei.«
Meine Hand umklammerte den Hörer eine Spur fester. »Weshalb?«, fragte ich.
»Passt es Ihnen gegen zehn? Ich hole Sie ab.«
»Ich würde gern wissen, weshalb«, beharrte ich.
»Hören Sie. Ich will nicht unhöflich sein, aber das, was ich mit Ihnen zu besprechen habe, sollten wir besser nicht am Telefon tun.«
»Ich hätte trotzdem gern einen Anhaltspunkt.«
»Sie waren heute bei Koslowski.«
»Sie meinen damit aber nicht zufällig den Ordner, oder?«
Wie schnell neue Nachrichten in dieser Kleinstadt doch die Runde machten. Natürlich hatten mich sowohl die Polizisten als auch die Dorfbewohner mit dem Ordner unter dem Arm aus dem Haus kommen sehen.
»Lassen Sie uns morgen darüber reden. Es ist schon spät. Ich hole Sie morgen früh ab. In Ordnung?«
»Nein«, sagte ich.
»Von
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