Bruderschatten
versuchte es erneut.
»Wenn du willst, können wir nachher Lauren anrufen und fragen, ob Jan morgen rüberkommt.«
Max schwieg starrsinnig, obwohl ich wusste, dass er sich auf Jan freute.
Er konnte entsetzlich dickköpfig sein. Zu gern würde ich behaupten, das hätte er von seinem Vater, aber das stimmte nicht.
Es hatte zwischen seinem Vater Konrad und mir nicht geklappt, doch das lag weder an Konrad noch an mir. Konrad war ein liebenswerter Mensch, dem man lediglich vorwerfen konnte, dass er sich vor elf Jahren auf mich eingelassen hatte. Denn ich war die Schwester des Mannes, den seine Familie trotz Koslowskis Geständnis noch Jahre später im Verdacht hatte, ihre Tochter Claudia getötet zu haben.
Konrad Langhoff war Claudias Bruder, und in jenem Sommer arbeitete er als Bauleiter in Hamburg. Die Firma seines Vaters Thor hatte eine Ausschreibung der Hamburger Baubehörde für sich entschieden und erneuerte einen Streckenabschnitt des Autobahnzubringers in der Nähe des Horner Kreisels. Ich hatte Konrad jahrelang nicht gesehen und war erstaunt, aber auch erfreut, als er mich eines Tages in der Redaktion anrief und fragte, ob ich später mit ihm in einem Café an der Alster zusammen ein Bier trinken wollte. Ich hatte keinen Freund zu der Zeit und ohnehin nichts vor, und so sagte ich zu. Wir unterhielten uns bis in die frühen Morgenstunden, und dann trafen wir uns zwei Tage später noch einmal und sprachen über Leo und Claudia, über Charles und die alten Zeiten – und wir redeten über unsere Trauer. Sowohl für Konrad als auch für mich war es das erste Mal, dass wir darüber mit einem anderen Menschen sprachen.
Unsere Trauer war keine Krankheit gewesen, die sich in ein paar Tagen auskurieren ließ, und das war das Scharfe, Kantige und Heimtückische daran. Durch Schmerz und Verlust mussten sowohl Konrad als auch ich hindurch. Deshalb wussten wir genau, wovon der andere sprach, wie es sich anfühlte und wie viel Zeit und Energie uns dieser Schmerz gekostet hatte, und das verband uns.
Vor allem aber war es wohl unsere Sehnsucht nach den unbeschwerten Tagen unserer Kindheit und Jugend mit all ihren Hoffnungen und Träumen, die dazu führte, dass wir miteinander schliefen. Es war keine Leidenschaft dabei, kein ungestümes Staunen, nicht diese Rosa-Wolken-Phase, in der man sich nacheinander verzehrte und schon morgens beim Aufwachen dem Abend entgegenfieberte, an dem man sich wieder begegnen würde. Es war vielmehr ein Zur-Ruhe-Kommen, das wir in all den Jahren vermisst hatten und das uns in diesen Tagen miteinander verband. Doch so, wie dieser betörend schöne Sommer dem Ende zuging, die Sonne langsam blasser wurde und die Wärme abends der herbstlichen Kühle zu weichen begann, so verblassten auch unsere Gefühle, denn sie besaßen keine Basis – außer dem Verlust jener Menschen, die wir geliebt hatten.
Mitte September musste Konrad zurück nach Solthaven. Es gab Schwierigkeiten in der Firma, sein Vater brauchte ihn dort, und ein anderer Bauleiter übernahm den Hamburger Auftrag.
Als wir uns voneinander verabschiedeten, wussten wir, dass unsere gemeinsame Zeit beendet war. Wir standen in der Abenddämmerung auf dem Bürgersteig vor meinem Haus. Ein frischer Wind strich durch die Straßen, die Häuser warfen lange Schatten, und der Berufsverkehr ebbte bereits ab.
Konrad strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, und dann küssten wir uns ein letztes Mal im Schatten der Kastanie vor dem Haus.
»Pass auf dich auf«, sagte er, und ich nickte.
Er überquerte die Straße und ging zu seinem Auto, blieb noch einmal stehen, drehte sich um und winkte mir zu. Ich warf ihm eine Kusshand zu und wandte mich ab.
Mit Tränen in den Augen stieg ich die Treppe hinauf in meine Wohnung. Es war eine kurze, schöne Zeit gewesen – und es tat weh, ihn gehen zu lassen. Etwas blieb jedoch von ihm zurück. Ich war schwanger.
Ich hatte mir zwar immer ein Kind gewünscht, eine Schwangerschaft jedoch nie forciert, und so war ich eher überrascht als erschüttert, dass ich ausgerechnet von Konrad ein Baby erwartete. Als ich ein paar Tage darüber nachgedacht hatte, traf ich eine Entscheidung: Ich würde dieses Kind zur Welt bringen, und Konrad würde niemals erfahren, dass er der Vater war.
»Max? Deine Mutter hat dich etwas gefragt«, versuchte Adam gerade noch einmal, meinen störrischen Sohn zu einer Reaktion zu bewegen.
Max reagierte. Er stand auf und verließ die Küche, ohne mich anzusehen.
Kurz darauf hörte ich
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