Bruderschatten
was meine Mutter mir geben konnte. Ein paar Tage nach Leos Flucht verlangte sie von mir, dass ich sie Eddie nannte und sie so behandelte wie jeden anderen Erwachsenen. Es schien mir, als sollte dieser Akt besiegeln, dass sie mir als Mutter nicht mehr zur Verfügung stand.
Lange Zeit lastete auch dieser Schatten auf mir, und vielleicht war die emotionale Kälte, die sie mir gegenüber entwickelte, mit ein Grund, weshalb ich nur noch selten und immer nur kurz bei meinen Eltern vorbeischaute. Doch vor jenem verhängnisvollen Sommer hatte es die andere Eddie gegeben, die Eddie, die ich liebte und verehrte wie keine Zweite und die auch mich geliebt hatte.
Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter jeden Abend zuerst zu mir und dann hinauf zu Leo gegangen war, um uns einen Gutenachtkuss zu geben und um Leo im Winter dieselbe kupferne Wärmflasche zu bringen, die ich nun für Max ins Bett gelegt hatte.
Die Erinnerung beschwor Eddies flüchtige Küsse auf meinen Wangen so lebendig, als sei es eben erst geschehen, und ich nahm ihren Geruch nach der selbstgemachten Rosen- und Lavendelseife mit einer so beklemmenden Intensität wahr, als säße sie neben mir.
Als Kinder hatten Leo und ich ihre Küsse geliebt, doch später war es uns lästig und unseren Freunden gegenüber peinlich geworden. Sie überfiel uns mit ihren Küssen, bevor wir morgens das Haus verließen, und sie küsste uns vor allen anderen, wenn sie uns von der Schule abholte. Es gab einen Abschiedskuss, wenn wir zum Spielen gingen, und einen zur Begrüßung, wenn wir heimkehrten. Es gab einen Gutenmorgenkuss noch im Bett und einen Gutenachtkuss, einen Freudenkuss, einen Vergebungskuss, einen »Ach, nicht so schlimm«-Kuss und einen »Weg ist der Schmerz«-Kuss.
Ich ließ es gnädig über mich ergehen. Leo verdrehte die Augen, und als er zwölf wurde, stieß er sie das erste Mal mit ganzer Kraft zurück, als sie ihn auf seinem Geburtstagsfest vor seinen Freunden umarmte und küssen wollte. »Hau ab«, zischte er und lief vor Wut rot an.
Eddie hatte ihn weniger betreten als vielmehr fasziniert angesehen, bevor sie zurück ins Haus gegangen war. Am nächsten Morgen küsste sie uns beide wieder so gut gelaunt und selbstverständlich, als hätte es die Szene am Vortag nicht gegeben.
Wenn Leo jemals zurückgekommen wäre, hätte sie ihn wieder genauso geküsst und umarmt – und mich vielleicht auch.
Aber er war nicht zurückgekommen.
Als Charles starb und Leo verschwand, verschwand auch ein Teil von ihr. Die Fröhlichkeit und Energie, die Eddie all die Jahre so selbstverständlich über uns versprüht hatte, welkte dahin, und sie bekam etwas Teilnahmsloses, fast Somnambules. Es gab Tage, da kehrte sie meinem Vater und mir den Rücken, verzog sich in ihr Schlafzimmer, ließ die Jalousien herunter und war weder für Adam noch für mich ansprechbar. Ich studierte bald darauf in Leipzig und fuhr nur selten nach Hause, doch wenn ich kam, erwartete mich nur der flüchtige Schatten meiner früher so temperamentvollen Mutter. Es war eine Form schleichender Selbstzerstörung, und sie mit anzusehen war mitunter qualvoller als das Wissen um Charles’ Tod und Leos Schuld.
Max war es später manchmal gelungen, sie zumindest stundenweise aus ihren Depressionen zu reißen und ihr ein Lächeln zu entlocken. Ich hätte mir einreden können, dass es an seiner außergewöhnlichen Freundlichkeit und Offenheit lag. Doch es war viel einfacher. Max erinnerte sie an Leo – und dieser Umstand allein barg das Geheimnis, dass er selbst in ihren düstersten Stunden zu ihr durchdrang.
Und Lauren. Sie hatte es auch geschafft. Das hatte mir Adam erzählt. Immer wenn Lauren kam, überzog ein Lächeln Eddies Gesicht, und ich fragte mich an diesem Abend, weshalb selbst Lauren etwas Freundliches in meiner Mutter berührt hatte und nicht ich. Es war eine dieser Fragen, auf die es keine Antwort gab.
Ich lauschte den Geräuschen aus dem Badezimmer. Max stellte gerade die Dusche ab. Kurz darauf hörte ich die elektrische Zahnbürste.
Schließlich lagen Max und ich wie jeden Abend zusammen unter der Bettdecke, ich links, sein schwarzer Kuschelpanther Jack rechts, und lauschten einem Kapitel von »Harry Potter und der Orden des Phönix«. Den Panther hatte ihm Eddie zu seinem zweiten Geburtstag geschenkt. In der Zwischenzeit hatte er seine grünen Glasaugen verloren, und Eddie hatte neue aus grünen Kreuzen gestickt. Seither schielte Jack, aber Max liebte ihn nur umso mehr und fuhr nirgends
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