Bruderschatten
Kooperation halten Sie wohl immer noch nichts, was?«
»Mit Ihnen?«
»Ich möchte Ihnen etwas mitteilen, und es wäre besser, wenn Sie es sich anhören.«
Ich schwieg einen Moment.
»Bitte«, drängte Kortner. »Es ist wichtig.«
»Also gut.«
»Ich hole Sie um zehn ab.«
Er wünschte mir einen angenehmen Abend und legte auf.
»Wer war’s?«, fragte mein Vater, als ich zurück in die Küche kam.
»Kortner«, sagte ich. »Er will mich morgen früh treffen. Es geht um Koslowski.«
Adam fragte nicht weiter, und ich war dankbar dafür. Ich liebte meinen Vater aus vielerlei Gründen. Einer war seine Diskretion. Als Leo in der Pubertät war, hatte er sie als Gleichgültigkeit missverstanden und sich mürrisch von ihm abgewandt. Doch Adam war nicht gleichgültig. Wir – seine Familie – waren immer das Zentrum seines Lebens. Er mochte nur niemanden durch zu viel Neugierde bedrängen und besaß die Gabe, darauf zu warten, bis wir uns ihm freiwillig anvertrauten.
»Ich habe Leos Zimmer aufgeräumt und für Max geheizt«, sagte mein Vater nach dem Essen. »Du musst nur die Wärmflasche mit nach oben nehmen.«
»Leos Zimmer?« Ich sah zu Max, der gerade sein Glas Milch abstellte. Ein Milchbart lag über der Oberlippe. Ich zeigte mit meinem Finger auf meine eigene, und er wischte sich mit dem Ärmel des Fleecepullis über den Mund.
»Es bringt doch nichts, das Zimmer unbenutzt zu lassen, und jetzt, wo Eddie nicht mehr bei uns ist …« Die Stimme meines Vaters trug den Satz durch die Küche, wurde brüchig und brach ab.
Ich wusste auch so, was er sagen wollte. Nachdem mein Bruder verschwunden war, hatte meine Mutter dieses Zimmer verschlossen, und bis zu ihrem Tod durfte es außer ihr niemand mehr betreten, als würde jeder Schritt von uns anderen die heiligen Erinnerungen entweihen.
»Au klasse, das Bodenzimmer.« Max grinste breit, was eine Zahnlücke entblößte. Vor Freude vergaß er, dass er böse auf mich war, und plapperte einfach drauflos.
Ein Lächeln huschte in die müden Züge meines Vaters, und er sah von einem zum anderen. Wie früher saßen wir wieder zu viert am Tisch. Alex saß auf Eddies Platz, Max auf Leos. Mit den grauen Augen und den strubbeligen braunen Haaren sah Max Leo nicht nur ähnlich. Je älter er wurde, desto mehr erinnerten mich auch seine Gesten an die meines Bruders.
Max erzählte, dass sein Freund Felix heute in der Schule eine Fünf in Betragen erhalten hatte, weil er unter der Bank einen Comic gelesen hatte. Der Mathelehrer hätte es bemerkt und wäre mit hochrotem Kopf auf Felix zugestürzt, der das Heft nicht schnell genug hätte verschwinden lassen können. Ich sah Max zu, wie er wild gestikulierte, die Augen weit aufgerissen, und die Zahnlücke beim Erzählen entblößend. Mein Vater lachte leise, Alex grinste – und ich war überwältigt. Das passierte mir manchmal, wenn ich Max bei ganz alltäglichen Dingen zuschaute. Wenn er sich hingebungsvoll die Zähne putzte oder nachts unter seiner Decke schlief und ihm das wirre Haar ins Gesicht fiel, oder wenn er versunken am Computer saß und Spielfiguren durch virtuelle Welten jagte. Ohne besonderen Anlass konnte es dann geschehen, dass ich überwältigt war von Liebe und wusste, dass dieser Junge der wahre Grund war, weshalb ich Tag für Tag voller Freude aufstand, meinen Job machte und mich danach sehnte, abends wieder heimzukommen. Manchmal bekam ich es dann mit der Angst zu tun, weil alles im Leben endlich war und man nichts und niemanden auf Dauer halten konnte. Und weil manches durch einen zu frühen Tod zu früh endete.
Ich dachte daran, wie mein Vater damals in seiner Praxis Plakate gebastelt hatte, mit denen er über die Dörfer gefahren war und die er überall aufgehängt hatte. »Gesucht wird Leo Lambert«, hatte darauf gestanden und: »Melde dich!« Mein Vater mit dem großen Herzen, der Gerechtigkeit gewollt hatte und nicht daran glauben konnte, dass sein Sohn ein Mörder war. Ebenso wenig wie ich. Meine Mutter hatte sich nie daran beteiligt, und als er zu seiner ersten Tour in seinem braunen Wartburg-Kombi aufbrach, war es eines der seltenen Male gewesen, dass ich meine Eltern lautstark streiten hörte. Er solle Leo in Frieden lassen, hatte meine Mutter gebrüllt. Es würde niemandem helfen, wenn er zurückkäme. Es sei geschehen, und er solle froh sein, dass Leo entkommen konnte. Ihr Sohn würde in diesem Staat nie einen fairen Prozess bekommen.
Auch ich hatte meinen Bruder gesucht. Nachdem ich die ersten
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