Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
Vom Netzwerk:
Tage im Bett verbracht hatte, war ich irgendwann aufgestanden und mit dem Fahrrad an Leos Lieblingsplätze gefahren. Nur in den alten Wehrmachtstunneln hatte ich nicht nachgeforscht. Ich hatte nicht gewagt, ins Sperrgebiet zu fahren, und ich hatte auch keine Ahnung, wo sie lagen.
    Auf der Suche nach einem Zeichen von ihm recherchierte ich noch Jahre später im Internet. Manchmal hasste ich Leo für das, was er uns angetan hatte. Doch mitunter dachte ich inzwischen, es war gut, dass er verschwunden war und uns allen einen Prozess erspart hatte. Was hätte der auch bringen sollen außer einer Verurteilung wegen Mordes, wie Kortner es vorbereitet hatte? Denn daran hatte es für mich nie einen Zweifel gegeben. Es mochte ein Unfall gewesen sein, und einiges sprach dafür. Doch Kortner hätte ihn wegen Mordes vor Gericht gebracht. Ich hatte nur nie verstanden, warum dieser Mann so besessen davon war, meinem Bruder einen Mord anzuhängen.
    Ich stand vom Tisch auf, füllte heißes Wasser in die alte, kupferne Wärmflasche, umwickelte sie mit einem Frotteehandtuch und folgte Max die Treppe hinauf in die erste Etage. Ich lief am Schlafzimmer meiner Eltern und an meinem Zimmer vorbei und stieg am Ende des Flurs die knarrende Stiege zum Dachboden hinauf.
    Meine Schritte wurden langsamer, fast unsicher.
    Vor der Tür blieb ich stehen, und Max drängelte sich aufgeregt an mir vorbei.
    »Cool.« Erst warf er den Rucksack und dann sich selbst auf Leos Bett. Die altersschwache Federung knackte und stöhnte zum Erbarmen.
    Ich sah mich um. Aus jedem Winkel atmete Leos Geist, als hätte er das Zimmer nie verlassen. Leichtathletikpokale standen in den oberen beiden Fächern eines Wandregals, die anderen füllten Science-Fiction-Taschenbücher. Auf dem Schreibtisch lagen Stifte ordentlich in einer Schale, umgeben von schlichten Silberrahmen, die meine Mutter nach Leos Flucht aufgestellt hatte. Auf allen Fotos lachte er mir entgegen: Leo strahlend auf dem Siegertreppchen bei einer Bezirksmeisterschaft, Leo lächelnd nach einem Schwimmwettbewerb, Leo grinsend beim Abiturball, Leo in die Kamera winkend beim Grillen. Es waren Fotos von einem jungen Mann, bei dem Frauen dahinschmolzen und Männer manchmal mit Sympathie, oftmals aber auch mit Neid reagierten. Immer ein bisschen zu selbstbewusst und mitunter fast großspurig lächelte Leo in die Kameras, die sich auf ihn richteten. Er wirkte stets wie einer jener Glückspilze, die mit jungenhaftem Charme lässig durchs Leben glitten und nichts anderes kannten als ihr Vergnügen und eine nie endende Geschichte sich aneinanderreihender Siege. Doch so geradlinig, wie diese Fotos erzählten, war Leos Leben nicht verlaufen.
    Ich scheuchte Max ins Bad und stopfte die kupferne Wärmflasche unter die klamme Bettdecke. Mein Vater hatte die altersschwache Heizung bereits mittags hochgedreht, doch der Raum verteidigte die Kälte wie eine Festung.
    Ich setzte mich auf die Kante des Bettes, in dem ich unzählige Abende neben Leo gelegen und ihm von meinem Tag erzählt hatte. Immer hatte es nach Lavendel, Rosmarin und Rosen gerochen wie in all unseren Betten, Kommoden und Schränken. Ich nahm das Kopfkissen in die Hand und drückte mein Gesicht hinein, als könnte ich eine Spur aufnehmen, die mich zurück zu glücklichen Tagen führen würde.
    Es gab keine Spur mehr. Nicht von Leo und nicht von Eddie. Wie auch? Eddie hatte ihre kleinen, spitzenbesetzten Baumwollkissen in den alten Wäscheschränken und zerkratzten Kommoden im vergangenen Sommer kaum mehr mit den getrockneten Blüten und Kräutern füllen können, und ich fragte mich, ob sie es vermisst hatte und was sie sonst noch so vermisst hatte – außer Leo natürlich, nach dem sie sich verzehrt hatte und dessen Abwesenheit einen so großen Raum in ihr eingenommen hatte, dass es für mich, der Anwesenden, jederzeit Verfügbaren, keinen Platz mehr gegeben hatte. Manchmal, wenn ich zu Besuch kam und wir zu dritt zu Abend aßen, ertappte ich sie dabei, wie sie mich musterte. Nicht liebevoll und dankbar, dass es mich gab, sondern eher so, als fragte sie sich insgeheim, weshalb ich an diesem Tisch ihr Brot aß – und nicht Leo. Vielleicht hätte ich dem keine Bedeutung beimessen sollen, doch es hatte mich verletzt. Sie hatte ihren Sohn verloren, ich meinen Bruder und meinen Freund. Ich war ebenso verzweifelt wie sie, und ich hätte Trost und Liebe gebraucht.
    Doch die tröstenden Küsse und Umarmungen in jener ersten Nacht nach der Tragödie waren alles,

Weitere Kostenlose Bücher