Brüder und Schwestern
durchaus hätte ahnen können: Er tat nicht dergleichen. Er sah mich nach meiner Erklärung nicht anders an als zuvor. Es war, als hätte ich überhaupt nicht zu ihm gesprochen. Endlich begriff ich, daß jenes entsetzliche Wort, tot, nur ein weiteres war, das er nicht verstand. Gewiß, Antonio, selber längst totgeweiht, hatte hier auf der Insel weder einen Toten gesehen noch von einem Toten gehört; und zuvor, in einer anderen, freudvolleren Zeit, war niemand in seiner unmittelbaren Umgebung gestorben.
Ich überlegte krampfhaft, wie ich ihm den Tod erklären konnte. Währenddessen schien mir, als zögen nun doch feinste bläuliche Nebel durch die Zelle, aber weniger denn je vermochte ich einzuschätzen, ob ich sie wahrhaft vor mir hatte oder sie mir nur einbildete. Plötzlich kam mir eine aberwitzige Idee. Ich vermied es, auch nur eine Sekunde über sie nachzudenken, denn ich war mir bewußt, daß ich sie ja dann wieder fallenlassen mußte, so sehr widersprach sie der Vernunft. Statt dessen machte ich mich sofort an die Umsetzung der Idee und bat Gomus, mir von draußen eine der streunenden Katzen hereinzubringen. Mit einer schleppenden Offenheit, die nur dem Tumben eigen ist, erwiderte er, das sei ihm nicht möglich, er habe Order, während meiner Anwesenheit die Zelle nicht zu verlassen. Nun bat ich Vestis. Er neigte den Kopf, er war eine fleischgewordene Frage. Ich nickte ihm mit der Gewißheit desjenigen zu, der genau weiß, was er will, weil er nicht ganz Herr seiner Sinne ist (denn wer Herr seiner Sinne ist, all seiner Sinne, wie sollte der angesichts mannigfaltiger widerstreitender Einflüsse und Erkenntnisse noch wissen, was er will). Vestis deutete eine Verbeugung an und verließ die Zelle. Wenig später erschien, wie von mir durchaus erwartet, jener Bedienstete, der auch gestern um diese Zeit eingetreten war, und brachte die weiße Tischdecke sowie Teller und Besteck. Antonio, Gomus und ich verfolgten schweigend, wie er alles auftrug. Dabei musterte ich Antonio aus den Augenwinkeln. Obwohl er zweimal das Wort Katze deutlich vernommen haben mußte, zeigte er keinerlei Reaktion, ganz so, als sei er imstande, den schweren Ballast seines wiederkehrenden nächtlichen Traumes am Morgen vollends abzustreifen. Nachdem der Bedienstete wieder gegangen war, schaute Antonio mich sogar hell und aufmunternd an, wohl um mich zu bewegen, ich möge nun endlich auf eine ihm verständliche Weise berichten. Ich aber wollte schweigen, bis Vestis zurückkehrte. Dann würde alles sehr eindrücklich und verständlich gesagt werden können.
Er trat jetzt wieder in die Zelle. Ich wandte mich ihm zu und bot Antonio den Rücken; somit verdeckte ich Antonio die Sicht auf ihn und auf sein Mitbringsel. Vestis umklammerte mit seinen kräftigen Händen eine zappelnde Katze. Sie hatte glänzendes schwarzes Fell und grüne blitzende Augen, wie ein kleiner Panther. Ich streckte meine Hände aus, damit er sie mir übergeben konnte, griff aber, ungeübt, wie ich in solcherlei Dingen war, nicht richtig zu, so daß die Katze mir entschlüpfte und auf den Tisch sprang. Dabei stieß sie einen Teller herunter. Das Geräusch, das hierbei ertönte, machte sie nur um so wilder. Sie sprang Antonio kreischend ins Gesicht und zog sich mit ihren Vorderpfoten geschwind an seinem Schopf auf die Schädeldecke. Von ihrem erhöhten Standort aus warf sie, die Pfoten in Antonios Stirn krallend, ihren Kopf gehetzt umher. Antonio aber, Antonio hatte in dem Moment, in dem die Katze sich ihm zeigte, schrill aufgeschrien. Als sie dann auf dem Tisch gelandet war und ihn aus unmittelbarer Nähe mit ihren starren Augen anblitzte, preßte er, immer weiter schreiend, seine Augen und seinen Mund krampfhaft zusammen, er schien sich zu ängstigen, die Katze könne in ihn springen, in ihn hinein. Mit seinen Händen schlug er nach ihr, doch nie habe ich jemanden so hilflos schlagen sehen wie damals ihn. Er traf nur sich selbst, traf sich noch, als die Katze längst über seine Pritsche stob. Vestis jagte ihr nach und packte sie; ich sagte, »ruhig, Antonio, Vestis hat sie«. Es dauerte noch mehrere Sekunden, ehe Antonio wagte, die Augen zu öffnen. Und nun, da alles vorbei war, verfiel er in ein Jaulen und Wimmern. Auch wurde sein Körper wie von einem Fieber geschüttelt. Das Besteck auf dem Tisch begann lautlos zu verrutschen, ich habe es gesehen und sehe es noch immer vor mir, es verrutschte, obwohl Antonio sich nicht auf den Tisch stützte. »Mein Gott«, murmelte
Weitere Kostenlose Bücher