Brüder und Schwestern
Juhuhuhuuu einer Artistin; der erloschene Blick des Großen Leonelli; die zwei blitzenden Messer, die John Klingers Mädchen John mit den flachen Seiten an die Wangen drückte, als wolle es sein Gesicht rahmen, und Johns Mund, der sich leicht öffnete, und die Zunge, die das Mädchen wie wild geworden hineinsteckte, mitten in dieses Bild von einem Mann.
Nach der Vorführung setzte sich Matti auf die Treppe von Brittas Wagen und wartete auf Britta, die damit beschäftigt war, die Sägespäne im Chapiteau auszutauschen. Es war fast noch taghell. Von der »besseren« Seite des Lagers her näherte sich, seine Peitsche in der Hand, der Große Leonelli, aber als er Matti gewahrte, drehte er wieder ab. Dann erschien endlich Britta. Sie sah wohl das Glühen in Mattis Gesicht, denn sie sagte: »Das war interessant, nicht wahr?«
»Interessant ist gar kein Ausdruck! Ich glaube, ich habe eben erst richtig begriffen, was dich hier so fesselt. Es ist ja der blanke Aufruhr – im Innern, meine ich. Selbst in meinem, obwohl ich doch nur dabeigestanden habe.«
»Siehst du«, rief Britta, »siehst du!«
»Und noch etwas habe ich begriffen«, fügte Matti hinzu. »Wie schwer es dir damals gefallen sein muß, nicht mehr zu jonglieren. Freiwillig zurückzutreten. Das war mir zuvor nicht klar gewesen.«
Britta sagte dazu nichts. Sie schaute ihren Bruder dankbar an, aber nicht nur dankbar, sondern auf einmal auch seltsam unruhig und aufgeregt. Ihre Aufregung schien sogar mit jeder Sekunde zuzunehmen. Sie schüttelte den Kopf und legte, wie um sich selber zu beruhigen, wie um etwas zurückzuhalten, ihre Hände auf die Knie. Plötzlich aber sprang sie, »ich zeig’s dir, ich zeig’s dir« rufend, auf und stürmte in den Wagen. Keine Minute später war sie schon wieder da. Statt ihrer schlabbrigen Klamotten trug sie nun einen Pantalon und ein schlichtes, eng anliegendes Nicki. Über den Arm hatte sie sich zwei große Tücher geworfen, ein bordeauxrotes und ein goldgelbes, in der einen Hand hielt sie ein braunes Apothekerfläschchen sowie eine gefüllte Socke. Mit der anderen Hand zog sie den verdutzten Matti hoch und führte ihn in Richtung Chapiteau.
Matti fragte, »was denn jetzt, was hast du vor«, und Britta, die ihn, hüpfend und trampelnd wie ein ungezähmtes Pferd, noch immer zog, rief: »Etwas, das bisher niemand kennt, der nicht bei ›Devantier Circus‹ ist! Etwas, das es noch gar nicht gibt!«
Im Chapiteau wies sie Matti an, sich in eine Loge zu setzen. Danach schüttete sie sich vorsichtig ein wenig von der Substanz auf ihre Hände, die sich in der Socke befand. Sogleich war sie in eine staubige Wolke gehüllt. Aus der sie erklärend rief: »Kolophonium«. Als nächstes besprenkelte sie sich ihre Handflächen mit ein paar Tropfen aus dem Fläschchen: »Alkohol, reiner«. Sie stopfte sich die Tücher unter den Gummi des Pantalons und kletterte behende an einem der beiden Trapezseile in Richtung Zeltdecke. Auf halber Höhe machte sie kurz halt, um Matti zuzurufen: »Es klappt noch nicht alles, aber egal …« Sie knotete das eine Tuch an dem Seil fest, an dem sie wie ein Affe klebte, und das andere an dem zweiten Seil. Noch einmal schaute sie zu Matti runter. Er konnte genau beobachten, wie die Vorfreude in ihrem Gesicht einem heiligen Ernst und einer strengen Konzentration wich. Dann begann sie zu turnen: Britta wickelte sich die Tücher um die Füße, das rote Tuch um den Spann des linken Fußes, das gelbe um den des rechten. Sie spreizte langsam die Beine, bis sie im Spagat war; sie hing nun an den straffen Tüchern wie eine Puppe an Schnüren. Aber ganz überraschend, so schnell, daß Matti gar nicht verfolgen konnte, wie sie es angestellt hatte, lag sie rücklings auf dem einen Band. Sie hob ihr Becken und wölbte sich über dem schmalen Stück wie ein Brückenbogen. Dann wurde aus dem Band ein Folterinstrument. Es schnitt ihr zwischen Schenkeln und Brüsten. Sie zog es mit Armen und Beinen langsam auseinander wie einen Vorhang, eben noch war der Stoff ihr Verderben gewesen, jetzt bot er ihr Zuflucht. Matti sah im Dämmerlicht des Chapiteaus hinter dem Tuch die Silhouette ihres perfekt gebauten Körpers, und ohne daß er in diesen Momenten des Staunens und Genießens zum Denken gekommen wäre, wußte er, seine Schwester sandte mit dem, was sie da gerade tat, eine dichte Folge beeindruckendster Reize aus. Sie griff sich nun den Vorhang und hüllte sich in ihn, sie war jetzt die pure Verlockung. Matti erkannte deutlich
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