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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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Wohle von »Devantier Circus« und auch zur eigenen Beglückung, denn den Applaus, der unweigerlich auf das Wehenlassen folgte, den nahm sie als gerechten Lohn für ihre Hilfsbereitschaft.
    *

Aus dem Romanmanuskript »Das verschlossene Kind«: Kapitel 6:
    Was war ich für ein Trottel! Antonio mir nichts dir nichts an seine Eltern zu erinnern, war ich denn noch bei Troste? Jegliche Vorsicht hatte ich fahrenlassen in meinem Schwelgen im einstigen Glück, in meinem selbstsüchtigen Erzählen; ich hatte Antonio mißbraucht, um mich meinen einfältigen Erinnerungen hingeben zu können. Dabei wußte ich genau, daß man nur ein bestimmtes Wort erwähnen muß, und schon ist bei dem, der es hört, der Weg zu einer verschütteten Geschichte frei, schon liegt sie brach, schon peinigt sie ihn. Aber wenn das so ist, sagte ich mir einen Moment später, war es doch egal, wann das Wort fiel und durch wen. Vielleicht war es sogar gut, daß es nun heraus war? Vielleicht hatte ich, auf lange Sicht gesehen, Antonio sogar einen Gefallen getan? Aber dann durfte ich ihn mit den Knochen, die ich ihm hingeworfen hatte, jetzt nicht alleinlassen. Ich mußte an jenes »deine Mutter und dein Vater« anknüpfen und mit ihm über die beiden reden, ohne Verzug, es gab kein Zurück mehr, wie ich auch an seinem Verhalten sah: Antonio umklammerte mit seinen patschigen weißen Fingern so krampfhaft die breite Tischkante, daß die Finger blaurot anliefen. Außerdem zitterte er am ganzen Leibe, und seine Pupillen, die mir bis dahin seltsam unbeweglich erschienen waren, schwerfällig wie der ganze Antonio, irrten hin und her. »Antonio«, sagte ich beruhigend, »Antonio«, mehr wollte mir nicht einfallen. Hilflos fragte ich etwas, das er schon auf seine Weise beantwortet hatte, nämlich, ob er sich an seine Eltern erinnern könne. Noch immer am ganzen Leibe zitternd, nickte er. Ich fragte ihn weiter, was das im einzelnen sei, und gleichzeitig fiel mir ein, daß er heute noch kein einziges Wort gesprochen hatte. Mithin war es vermessen, von ihm etwas anderes als Schweigen zu erwarten. Antonio aber antwortete: »Eine Birn. Im Gras liegt. Rote Birn, und gelb. Mama bringt, und dann essen.«
    »Du hast sie Mama gebracht, ja. Und wer hat sie dann gegessen? Du oder deine Mama?«
    »Ich und Mama.«
    »Ihr beide?« Ich lachte los wie ein Idiot, weil er sprach, zusammenhängend sprach, und weil er aufgehört hatte zu zittern.
    Und mein Gott, er lächelte jetzt, vielleicht wegen meines Lachens, vielleicht aber auch wegen der schönen Erinnerung, die in seinem Kopf womöglich mehr und mehr Gestalt annahm. Und hört doch nur, er antwortete: »Ich das Halbchen, und Mama.«
    Mit mühsam zurückgehaltener Erregung rief ich: »Das ist großartig, Antonio, ihr habt also beide je eine Birnenhälfte gegessen. Und wie sah sie aus, deine Mama, weißt du das auch?« Ich hatte keine Ahnung, was ich erwartete, denn noch einmal, Antonio war keine drei Jahre alt gewesen, als das Unheil über seine Familie, und über viele andere, hereingebrochen war, er konnte jetzt nie und nimmer Genaues berichten.
    Doch wieder belehrte er mich eines Besseren: »Großer Mund mit Halbbirn.«
    »Sie hatte so einen großen Mund, daß eine halbe Birne auf einmal reingepaßt hat? Das stimmt, das stimmt!« Mir war ihr Mund gleich aufgefallen, und später, als Meta mit Salo ging, erschien mir Salo allein wegen ihres großen Mundes und ihrer vollen Lippen, von denen er geküßt wurde und die er küssen durfte, als ein vom Schicksal Begünstigter. Mir wurden die Augen feucht, wegen jenes unverschämten Glückes, an dem ich teilgehabt hatte, und weil es unwiederbringlich vorüber war.
    Da erstarrte Antonio, wie er am Tag zuvor in ähnlicher Situation schon einmal erstarrt war. Ich fragte ihn vorsichtig, was auf einmal mit ihm los sei, und als er nicht antwortete, fragte ich weiter, ob ihn meine Tränen vielleicht ekelten. Daraufhin blickte er mich verständnislos an. Aber natürlich, jenes Wort, Ekel, war ihm vollkommen fremd. Ich versuchte, alles einfacher und genauer auszudrücken: »Solche Tränen, Antonio, hast du früher schon einmal gesehen, nicht? Wo war das? Wer hat geweint? Du weißt es noch, stimmt’s?« Mit widerstreitenden Gefühlen beugte ich mich zu ihm; etwas sagte mir, ich dürfe ihn nicht länger martern, und etwas, ich müsse ihm helfen, sich über das Geschehene klarzuwerden.
    Antonio öffnete den Mund, indes, nichts kam heraus. Er drehte sein Gesicht weg, als schäme er sich. Ich

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