Brüder und Schwestern
Vestis. Er hielt die Katze so fest gepackt, daß seine Finger in ihrem Fell verschwanden, und starrte abwechselnd mich und Antonio an. In seinem Blick las ich einen deutlichen Vorwurf. Mir tat auch fürchterlich leid, was soeben geschehen war. Dennoch ließ ich mich in meinem Vorhaben nicht beirren. Ich war wie besessen, Antonio den Tod vor Augen zu führen, und nicht irgendeinen Tod, sondern den, der auf Mord beruht, ich mußte ihn zur Wahrheit geleiten, wozu sonst war ich hier? Ich forderte Vestis auf, die Katze rücklings auf den Tisch zu legen und nicht entweichen zu lassen. Er tat wie geheißen, allerdings widerstrebend. Indessen stolperte Antonio rückwärts, weg von der Katze, ohne sie auch nur einen Moment aus dem Blick zu verlieren. Ich nahm ein Messer und setzte es ihr an die Kehle. »Nicht!« rief Vestis. Ich würdigte ihn keines Blickes und schnitt in einem mir heute unheimlich scheinenden kräftigen Zug die Kehle durch. Die Katze ließ ihre Pfoten, die sie eben noch krampfhaft nach oben gestreckt hatte, nicht schnell und nicht langsam fallen. Und nicht schnell und nicht langsam färbte sich das Tischtuch rot. Keine Sekunde länger mich mit dem Zusehen aufhaltend, lief ich in die Ecke, in der Antonio kauerte, packte ihn am Arm und schleifte ihn zum Tisch. »Faß an«, forderte ich ihn auf. Mit seinem ganzen Körper widersetzte er sich, aber ich zerrte ihn näher zu der Katze und wiederholte laut, beinahe brüllend: »Faß sie an, Antonio, faß sie an, das ist tot, Antonio, das!« Ich führte seine sich sträubende Hand an das Fell, drückte sie darauf und sagte triumphierend: »Ganz warm ist die Katze noch, aber du wirst schon merken, bald wird sie kalt.«
Es ist mir wichtig zu betonen, daß ich nie zuvor und nie danach getötet habe. Diese eine Tat aber war notwendig. Mit ihr malte ich Antonio gewissermaßen ein Bild, auf dem er erkennen konnte, wie mit Meta und Salo verfahren worden war. Ich meinte damals, er benötige eine derart einprägsame Anschauung, um irgendwann einmal ein Gefühl für Recht und Unrecht zu bekommen und sich seiner eigenen Lage bewußt zu werden. Das meine ich noch heute; und seine weitere Entwicklung, der ich nicht vorgreifen will, hat mich durchaus bestätigt. Dennoch weiß ich mittlerweile, es gab für mich noch einen anderen Grund, der Katze den Garaus zu machen, einen mir damals verborgenen. Es war der Drang, jemanden zu verletzen, es war der geheime Wunsch, Vestis zu verdeutlichen, auch ich sei, wie jeder, dazu imstande. Tatsächlich, so weit war ich bereit zu gehen, nur um sein elendes Lob abzuwehren. Mir ist bewußt, daß wohl niemand diesen Gedanken nachvollziehen kann, aber einerlei, in meinem Alter muß ich nicht mehr von anderen verstanden werden. Ich bevorzuge es, mich selber zu verstehen.
Im übrigen: Sooft ich in den Wochen und Monaten nach jenem blutigen Zwischenfall den treuen Vestis fragte, ob Antonio wohl in der Nacht phantasiert habe, sooft verneinte er. Jedesmal aufs neue war seine Freude offenkundig, und auch ich empfand immer wieder ein Hochgefühl, nicht zuletzt deshalb, weil nach dem, was geschehen war, niemand mit einer solchen Wendung hatte rechnen können. Antonio war ja ebenso heftig wie unverhofft von der Katze attackiert worden! Seine Angst hätte daher doch zunehmen müssen, oder nicht? Mehr als einmal suchte ich mit Vestis nach einer Erklärung, indes kamen wir nicht weiter als bis zu der äußerst vagen Vermutung, mit dem Tier sei »auf irgendeine Weise« auch Antonios Traum dahingegangen.
*
Da Britta nicht mehr auftrat und Matti ja bestimmt auch schon ein halbes Dutzend Vorstellungen von »Devantier Circus« gesehen hatte, fragte er sie, ob er nicht einmal das Geschehen hinter dem Vorhang beobachten könne. Britta bat Devantier um Erlaubnis, und der erteilte sie ihr beziehungsweise Matti mit den denkwürdigen Worten: »Ausnahmsweise. Aber er soll mir nicht mittenmang herumhüpfen. Ich schlag ihm eigenhändig seine zehn Zehen ab, wenn er uns in die Quere kommt, richte das deinem Bruder aus!«
Matti hatte schon zuviel von Devantier gehört, um nicht zu befürchten, der werde ihm bei Zuwiderhandlung tatsächlich an den Kragen gehen. Also schob er sich zwischen zwei Türme aufeinandergestapelter Postamente und drückte sich mit dem Rücken an den harten Zeltstoff. Die Plane fühlte sich warm an von der Sonne, die noch nicht untergegangen war. Mittsommer hatte sie am Himmel verhakt.
Matti hörte das Publikum hinterm Vorhang summen, es klang wie
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