Brüder und Schwestern
schwarz in die Landschaft. Willy holte tief Luft, um zu prüfen, ob in seiner Brust oder an seinen Schläfen etwas schmerzte, aber da war nichts, hatte er die Reinigungsaktion also doch glücklich überstanden. Er erhob sich, fühlte er sich jetzt nicht sogar kräftiger als am Morgen? Vor allem erleichtert war er, so sehr hatte es ihm auf der Seele gelegen, daß er die Leiter würde hochkraxeln müssen.
Aber jetzt auf einmal, so spät am Tage noch, begann eine ganze Serie von Überraschungen.
Denn das Telefon klingelte, und Matti war das, der nach einer kurzen Begrüßung mit seltsamer Stimme erklärte: »Catherine übergibt sich dauernd, hast du eine Ahnung, was sich da machen läßt?«
Zuerst begriff Willy gar nicht den herrlichen, offensichtlichen Hinterhalt. »Keine Ahnung«, brummte er. Als das noch nicht ganz heraus war, durchfuhr ihn doch die Erleuchtung, und er fragte begeistert zurück, beinahe schrie er: »Sie kotzt, sagst du?«
»Sie kotzt!«
Das sei ja großartig – aber ob Catherine dies auch wirklich aus dem richtigen Grund tue, ob sie beide, also das heiße Catherine, ob Catherine da absolut sicher sei.
Sei sie, sonst würde er, Matti, jetzt doch nicht anrufen, sonst würde er schlicht und einfach seine Klappe halten, wenn keine Gewißheit wäre, das könne Willy glauben.
Nein, das noch zu erleben!
Er klang überwältigt, dieser Willy, er schien derart euphorisiert, als habe er so etwas noch nie erlebt, und deshalb erinnerte Matti ihn vorsichtshalber daran, daß er ja wohl schon Großvater sei.
Das stimme, sagte Willy erschrocken, und weil er so nicht klingen wollte, wiederholte er freudiger, das stimme, er werde nun schon zum zweiten Male Großvater, fein. Mit jenem ersten Ausruf aber – das noch zu erleben! – hatte er trotzdem die Wahrheit verkündet, denn seltsam war es bislang für ihn, Großvater zu sein, seltsam war es, an den kleinen Wiktor bloß zu denken: Er wehrte ihn ab, so wie er Erik abwehrte, und gleichzeitig haßte er sich dafür, weil er wußte, daß Erik sein Geschöpf war und Wiktor wiederum Eriks und daß er, Willy, eigentlich nur sich selber meinen konnte, wenn er in Gedanken Wiktor fortstieß. Und außerdem, wie niedlich und hell zeigte der sich, stand er erstmal vor einem. Man mußte ihn einfach liebhaben! Verfallen mußte man ihm, das ging rasend schnell jedesmal, binnen Sekunden ging es, und es hielt an, hielt genau so lange an, wie das Kind im Hause war. In solchen Zeiten fühlte sich auch Willy rein und gut, so mächtig war dieses Kind. Kaum aber hatte es Winke-Winke gemacht mit seinen Händchen, kaum hatte es sich wieder verabschiedet, begann wie ein langsam sich senkender Vorhang die Fremdheit es wieder unkenntlich zu machen. Und er selber, Willy, war es, der diesen Vorhang herunterließ; gottnochmal, er würde gern mehr lieben, Erik mehr lieben, sich selber, aber er konnte nicht.
Indes fühlte er sich außerstande, alle diese schwierigen und ihn verstörenden Gedanken Matti gegenüber am Telefon zu formulieren, und so fragte er ihn, wann eigentlich der voraussichtliche Entbindungstermin sei.
Dann und dann.
Und ob – ob auch Marieluise schon die freudige Nachricht erhalten habe.
Mit Bedacht soeben sei das geschehen.
Das verstünde er vielleicht nicht ganz: weshalb mit Bedacht soeben?
Weil unbedingt Gleichheit herrschen solle bezüglich der Großeltern, um so mehr, da sie sich in Gerberstedt jederzeit über den Weg laufen könnten. Und was werfe es denn auch für ein Licht auf entweder den Sohn oder die Tochter, wenn entweder Willy oder Marieluise noch nicht Bescheid wüßte während des Einander-Begegnens?
Sehr anständig sei das von ihm und von Catherine, und vorausschauend auch.
Nein, wehrte Matti ab, selbstverständlich sei es.
So ging es noch ein wenig hin und her, bis Willy schließlich bat, Matti möge einmal mehr, als er’s sonst täte, nämlich nur so für ihn mit der Hand über Catherines Bauch streichen, das war eigentlich bloß gesagt, weil er mit einem besonders schönen Gesprächsabschluß glänzen wollte, symbolisch war es gemeint. Aber Matti versprach es mit feierlicher Stimme: Auf jeden Fall werde er das tun. Catherine, das wisse er, werde sich freuen und andächtig stillhalten.
Willy blieb nun noch viel Zeit bis zu seinem theoretisch dritten Gang nach dem Bunker, über eine Stunde. Trotzdem zog er sich schon an. Zu Marieluise machte er sich kurzerhand auf, was sollte er hier denn hocken bleiben so allein, und was sollte sie allein
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