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Brunetti 02 - Endstation Venedig

Brunetti 02 - Endstation Venedig

Titel: Brunetti 02 - Endstation Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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kürzlich beim Friseur gewesen zu sein, und seine Jeans hatten eindeutig so etwas wie eine Bügelfalte. Er hörte seinen Eltern zu, ohne gleich zu widersprechen, und stritt seltsamerweise nicht mit Chiara um die letzte Portion Pasta. Nach dem Essen gab es zwar beruhigenderweise Proteste, als er hörte, er sei mit dem Abwasch dran, aber dann ging er ohne Murren und Seufzen ans Werk, und diese Stille brachte Brunetti dazu, Paola zu fragen: »Ist mit Raffi irgend etwas nicht in Ordnung?« Sie saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa, und das Schweigen aus der Küche erfüllte den ganzen Raum.
    Sie lächelte. »Merkwürdig, nicht? Wie die Ruhe vor dem Sturm.«
    »Meinst du, wir sollten unsere Schlafzimmertür abschließen?« Sie lachten beide, aber keiner war sicher, ob über die Bemerkung oder darüber, daß sie es womöglich überstanden hatten. Wie bei allen Eltern Heranwachsender, bedurfte dieses »es« keiner weiteren Erklärung: Diese schreckliche, brütende Wolke aus Trotz und selbstgerechter Empörung, die mit gewissen hormonellen Veränderungen in ihr Leben driftete und darin hängenblieb, bis diese Veränderungen abgeklungen waren.
    »Er hat mich gefragt, ob ich einen Aufsatz durchlese, den er für den Englischunterricht schreiben mußte«, sagte Paola. Und als sie seine Verblüffung sah, fuhr sie fort: »Halt dich fest. Er hat auch noch gefragt, ob er für den Herbst einen neuen Blazer haben kann.«
    »Einen neuen, richtig aus dem Laden?« fragte Brunetti erstaunt. Und das war der Junge, der vor zwei Wochen noch glühend das kapitalistische System mit seinem Konsumzwang angeprangert hatte, das die Mode nur erfunden hatte, um eine nie endende Nachfrage nach neuen Klamotten zu schaffen.
    Paola nickte. »Neu. Aus dem Laden.«
    »Ich weiß nicht, ob ich darauf schon eingestellt bin«, sagte Brunetti. »Sollten wir etwa unseren ungehobelten Anarchisten verlieren?«
    »Sieht so aus, Guido. Der Blazer, den er sich ausgesucht hat, liegt bei Duca d'Aosta im Fenster und kostet vierhunderttausend Lire.«
    »Na, dann sag ihm mal, daß Karl Marx nie bei Duca d'Aosta einkaufen gegangen ist. Soll er doch mit den anderen Proletariern zu Benetton gehen.« Vierhunderttausend Lire! Er hatte fast zehnmal soviel im Casinò gewonnen. War das dann bei einer vierköpfigen Familie nicht Raffis Anteil? Nein, nicht für einen Blazer. Aber das war es wohl, der erste Riß im Eis, der Anfang vom Ende des Heranwachsens. Und wenn das vorbei war, kam der nächste Schritt zum jungen Mann. Zum Mann.
    »Hast du eine Ahnung, was dahintersteckt?« fragte er Paola. Falls sie der Meinung war, daß er doch eigentlich besser geeignet sei, zu beurteilen, was es bei einem Jungen mit dem Heranwachsen auf sich hat, sagte sie jedenfalls nichts davon und antwortete statt dessen: »Signora Pizutti hat mich heute auf der Treppe angesprochen.«
    Er sah sie fragend an, dann begriff er: »Saras Mutter?«
    Paola nickte. »Saras Mutter.«
    »Mein Gott. Nein!«
    »Doch, Guido. Und sie ist ein nettes Mädchen.«
    »Er ist erst sechzehn, Paola.« Brunetti hörte das Weinerliche in seinem Ton, war aber machtlos dagegen.
    Paola legte ihre Hand zuerst auf seinen Arm, dann auf ihren Mund und brach in lautes Gelächter aus. »Oh, Guido, du solltest dich mal hören. ›Er ist erst sechzehn‹. Nein, ich kann es nicht glauben.« Sie lachte weiter und ließ sich dabei hilflos gegen die Sofalehne fallen.
    Was wurde denn jetzt von ihm erwartet? fragte er sich: daß er grinste und schmutzige Witze erzählte? Raffaele war sein einziger Sohn, und ahnungslos, was ihn draußen in der Welt erwartete: Aids, Prostituierte, Mädchen, die schwanger wurden und einen zur Heirat zwangen. Und dann sah er es plötzlich mit Paolas Augen und mußte lachen, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.
    Raffaele kam ins Zimmer, um seine Mutter zu fragen, ob sie ihm bei seinem Englischaufsatz helfen könne, und als er sie so sah, wunderte er sich nur, wie albern doch Erwachsene sein konnten.

23
    Weder an diesem noch am folgenden Abend meldete Ambrogiani sich, und Brunetti mußte gegen die ständige Versuchung ankämpfen, beim amerikanischen Stützpunkt anzurufen, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Er rief Fosco in Mailand an, aber da war nur der Anrufbeantworter. Obwohl er sich ganz schön dämlich vorkam, mit einer Maschine sprechen zu müssen, teilte er Riccardo mit, was Ambrogiani ihm über Gamberetto erzahlt hatte, und bat ihn, über den Mann so viel herauszufinden, wie er konnte, und dann

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