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Brunetti 02 - Endstation Venedig

Brunetti 02 - Endstation Venedig

Titel: Brunetti 02 - Endstation Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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bevor er eine Telefonzelle fand, in der er seine Telefonkarte benutzen konnte. Er wählte die Nummer des Carabinieri-Postens und fragte nach Maggiore Ambrogiani. Der Maggiore war momentan nicht an seinem Schreibtisch. Wer wollte ihn sprechen? »Signor Rossi von der Generali-Versicherung. Ich rufe heute nachmittag noch einmal an.«
    Ambrogianis Abwesenheit konnte nichts zu bedeuten haben. Oder alles mögliche.
    Wie immer, wenn er nervös war, machte Brunetti einen Spaziergang. Er ging nach links und am Wasser entlang bis zu der Brücke, die nach Sant' Elena führte, überquerte sie und lief in diesem abgelegensten Teil der Stadt herum, den er auch diesmal nicht viel interessanter fand als bei früheren Gelegenheiten. Er machte sich auf den Rückweg durch Castello, an der Mauer des Arsenale entlang und auf SS. Giovanni e Paolo zu, wo diese ganze Geschichte angefangen hatte. Bewußt umging er den Campo; es widerstrebte ihm, die Stelle zu sehen, an der man Fosters Leiche aus dem Wasser gezogen hatte. Er nahm eine Abkürzung direkt zur Fondamenta Nuove und folgte dem Wasser, bis er abbiegen mußte, um wieder in die Innenstadt zu gelangen. Er kam am Madonna dell' Orto vorbei, registrierte, daß an dem Hotel noch immer gearbeitet wurde, und fand sich plötzlich auf dem Campo del Ghetto wieder. Er setzte sich auf eine Bank und beobachtete die Menschen, die an ihm vorbeigingen. Sie hatten keine Ahnung, absolut keine Ahnung. Sie mißtrauten der Regierung, fürchteten die Mafia, grollten den Amerikanern, aber das waren alles sehr allgemeine, ungerichtete Gefühle. Sie hatten ein Gespür für Intrigen, wie die Italiener es schon immer hatten, aber es fehlten ihnen Einzelheiten und Beweise. Über Jahrhunderte hatten sie genug Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, daß es reichlich Beweise gab, aber in denselben grausamen Jahrhunderten hatten die Menschen auch gelernt, daß jede amtierende Regierung alle Beweise ihrer Missetaten erfolgreich zu verstecken wußte.
    Er schloß die Augen, rutschte bequemer auf der Bank zurecht und genoß die Sonne. Als er sie wieder aufmachte, sah er die Schwestern Mariani über den Campo gehen. Die beiden mit ihren schulterlangen Haaren, hohen Absätzen und karmesinrot angemalten Lippen mußten inzwischen über siebzig sein. Niemand erinnerte sich mehr an die Tatsachen, aber jeder kannte die Geschichte. Wahrend des Krieges hatte der christliche Ehemann der einen sie bei der Polizei denunziert, und beide waren in ein Konzentrationslager gesteckt worden: Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau; der Name spielte kaum eine Rolle. Nach dem Krieg waren sie, nachdem sie ungeahntes Grauen überlebt hatten, in die Stadt zurückgekehrt, und hier schlenderten sie nun fast fünfzig Jahre später Arm in Arm über den Campo del Ghetto, jede mit einem knallgelben Band im Haar. Die Mariani-Schwestern hatten die schlimmsten Intrigen erlebt, und ganz gewiß hatten sie den Beweis für das Böse im Menschen gesehen, und doch gingen sie im hellen Sonnenschein an einem friedlichen Nachmittag in Venedig spazieren, und die Sonne leuchtete auf ihren buntgeblümten Kleidern.
    Brunetti wußte, daß er unnötig sentimental war. Er war versucht, gleich nach Hause zu gehen, aber dann ging er doch zur Questura zurück, langsam und ohne Eile.
    Als er dort ankam, fand er einen Zettel auf seinem Schreibtisch: »Kommen Sie bitte wegen Ruffolo bei mir vorbei. V.«, und ging sofort nach unten.
    Vianello saß an seinem Schreibtisch und sprach gerade mit einem jungen Mann, der ihm auf einem Stuhl gegenübersaß. Als Brunetti hereinkam, sagte Vianello zu dem jungen Mann: »Das ist Commissario Brunetti. Er kann Ihre Fragen besser beantworten als ich.«
    Der junge Mann stand auf, machte aber keine Anstalten, Brunetti die Hand zu geben. »Guten Tag, Dottore «, sagte er. »Ich bin hier, weil er gesagt hat, ich soll herkommen«, wobei er es Brunetti überließ, herauszufinden, wer »er« war. Der Junge war klein und stämmig, seine Hände waren zu groß für seinen Körper und schon rot und geschwollen, obwohl er kaum älter als siebzehn sein konnte. Wenn seine Hände noch nicht ausreichten, um ihn als Fischer auszuweisen, dann sein Akzent, dieser rauhe Burano-Singsang. Auf Burano fing man entweder Fische, oder man stickte Spitzen; die Hände des Jungen schlossen die zweite Möglichkeit aus.
    »Setz dich doch«, sagte Brunetti und zog einen zweiten Stuhl für sich heran. Die Mutter des Jungen hatte ihn offenbar gut erzogen, denn er blieb stehen, bis

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