Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Leute parat hatte, denen es sichtlich unangenehm war, sich in der Questura wiederzufinden. Dann sagte sie etwas von Arbeit, zu der sie zurückmüsse, und verließ das Zimmer.
Die Frau setzte sich, nicht ohne vorher ihren Rock zur Seite zu schlagen. Obwohl sie schlank war, bewegte sie sich unelegant, als trüge sie nie etwas anderes als flache Schuhe.
Brunetti wußte aus langer Erfahrung, daß es am besten war, erst einmal gar nichts zu sagen und nur mit ruhiger, interessierter Miene abzuwarten, dann würde das Schweigen sein Gegenüber früher oder später zum Reden bringen. Während er also wartete, sah er ihr kurz ins Gesicht, wieder fort und von neuem hin, wobei er in seiner Erinnerung kramte, woher es ihm so bekannt vorkam. Er suchte in dem Gesicht einen Elternteil zu erkennen, oder vielleicht eine Verkäuferin, die er in einem Laden gesehen hatte und nun in der andersartigen Umgebung nicht einzuordnen wußte. Aber, dachte er bei sich, wenn sie in einem Laden arbeitet, ist es sicher keiner, der etwas mit Kleidung oder Mode zu tun hat. Ihr Kostüm war ein gräßliches, kastenförmiges Gebilde in einem Schnitt, der schon seit Jahren aus der Mode war; ihre Frisur war nur Haar, das sehr kurz und zu lieblos geschnitten war, um jungenhaft oder schick zu wirken; sie trug keinerlei Make-up. Aber als er zum dritten Mal hinsah, hatte er den Eindruck, daß sie sich auch einfach verkleidet haben konnte und ihre Schönheit verbarg. Ihre dunklen Augen standen weit auseinander, und die Wimpern waren so lang und dicht, daß sie keiner Tusche bedurften. Ihre Lippen waren blaß, aber voll und geschmeidig. Für ihre gerade Nase, schmal und ganz leicht gewölbt, fand er kein besseres Wort als edel. Und unter dem unvorteilhaft abgemähten Haar sah er eine breite, faltenlose Stirn. Aber auch nachdem er ihre Schönheit erkannt hatte, wußte er sie nirgends unterzubringen.
Sie schreckte ihn mit der Frage auf: »Sie haben mich nicht erkannt, nicht wahr, Commissario?« Sogar ihre Stimme kam ihm bekannt vor, aber auch sie gehörte nirgendwohin. Er bemühte sich vergebens, sich zu erinnern, aber mit Bestimmtheit konnte er nur sagen, daß sie nichts mit der Questura oder seinem Beruf zu tun hatte.
»Nein, Signorina. Tut mir leid. Aber ich weiß, daß ich Sie kenne und nur nicht erwartet hätte. Sie hier zu sehen.« Er lächelte sie offen an, warb um ihr Verständnis für diese verbreitete menschliche Schwäche.
»Ich nehme an, daß man die meisten Leute, die Sie kennen, eigentlich nicht in der Questura zu sehen erwartet«, antwortete sie und lächelte zum Zeichen, daß sie es humorvoll meinte.
»Stimmt, meine Freunde kommen selten freiwillig hierher, und bisher mußte auch noch keiner von ihnen unfreiwillig hier erscheinen.« Diesmal sollte sein Lächeln zeigen, daß auch er über die Polizeiarbeit zu scherzen verstand. »Zum Glück«, fügte er dann noch hinzu.
»Ich hatte noch nie mit der Polizei zu tun«, sagte sie, wobei sie sich wieder im Zimmer umsah, als fürchtete sie, daß ihr nun, nachdem sie eben doch hier war, irgend etwas Schlimmes zustoßen könnte.
»Das haben die meisten Leute nicht«, meinte Brunetti.
»Vermutlich«, antwortete sie, dann senkte sie den Blick auf ihre Hände und sagte ohne jede Überleitung: »Man nannte mich einmal die Unbefleckte.«
»Wie bitte?« Brunetti verstand überhaupt nichts mehr und begann sich zu fragen, ob dieser jungen Frau wohl ernstlich etwas fehlte.
»Immacolata«, sagte sie, wobei sie wieder zu ihm aufsah und dieses sanfte Lächeln aufsetzte, das er schon so oft unter der gestärkten weißen Haube ihrer Tracht hatte hervorleuchten sehen. Der Name stellte sie augenblicklich an den richtigen Platz und löste das Rätsel. Der Haarschnitt fand eine Erklärung, desgleichen ihr offenkundiges Unwohlsein in der Kleidung, die sie trug. Brunetti hatte ihre Schönheit gleich bemerkt, als er Schwester Immacolata zum erstenmal in diesem Pflegeheim gesehen hatte, dem Ort der Altersruhe, an dem seine Mutter seit Jahren nicht zur Ruhe kam, aber damals hatten ihre Ordensgelübde und die lange weiße Tracht, in der sie zum Ausdruck kamen, sie mit einem Tabu umgeben, so daß Brunetti ihre Schönheit eher wie die einer Blume oder eines Bildes wahrgenommen und nur als Betrachter darauf reagiert hatte, nicht als Mann. Nun aber, befreit von Verbot und Verhüllung, hatte diese Schönheit sich mit ins Zimmer geschlichen, mochten Verlegenheit und billige Kleidung sie noch so sehr zu verbergen suchen.
Suor
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