Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Immacolata war aus dem Pflegeheim seiner Mutter vor etwa einem Jahr verschwunden, und Brunetti, bestürzt ob der Verzweiflung, mit der seine Mutter auf den Verlust der Schwester reagierte, die immer am nettesten zu ihr gewesen war, hatte lediglich in Erfahrung bringen können, daß sie in ein anderes Pflegeheim des Ordens versetzt worden war. Fragen über Fragen gingen ihm jetzt durch den Kopf, die er aber alle als unpassend verwarf. Sie war ja hier; sie würde ihm schon sagen, warum.
»Ich kann nicht nach Sizilien zurück«, sagte sie unvermittelt. »Meine Familie wurde es nicht verstehen.« Ihre Hände ließen die Tasche los und suchten aneinander Halt.
Als sie keinen fanden, sanken sie auf die Oberschenkel, suchten jedoch, als hätten sie plötzlich die Wärme des Fleisches unter sich gefühlt, gleich wieder Trost an den harten Kanten der Tasche.
»Seit wann sind Sie...«, begann Brunetti, fand nicht das Verb, verstummte und fragte dann: »Schon lange?«
»Drei Wochen.«
»Wohnen Sie hier in Venedig?«
»Nein, nicht hier, draußen am Lido. Ich habe ein Zimmer in einer Pension.«
War sie zu ihm gekommen, weil sie Geld brauchte? Wenn ja, wäre es ihm eine Ehre und eine Freude, ihr welches zu geben, so sehr fühlte er sich in ihrer Schuld, weil sie ihm und seiner Mutter jahrelang so viel Nächstenliebe entgegengebracht hatte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: »Ich habe Arbeit.«
»So?«
»In einer Privatklinik am Lido.«
»Als Krankenschwester?«
»In der Wäscherei.« Sie bemerkte seinen kurzen Blick auf ihre Hände und lächelte: »Das geht heute alles mit Maschinen, Commissario. Man muß die Laken nicht mehr zum Fluß schleppen und auf den Steinen ausschlagen.«
Er lachte, ebenso über seine eigene Verlegenheit wie über ihre Antwort. Damit hellte er die Stimmung im Zimmer auf und fühlte sich frei zu sagen: »Es tut mir leid, daß Sie diese Entscheidung treffen mußten.« Früher hätte er den Satz mit »Suor Immacolata« beendet, aber jetzt wüßte er keinen Titel mehr, mit dem er sie hätte anreden können. Mit der Tracht war auch ihr Name fort, und wer weiß was sonst noch alles.
»Ich heiße Maria«, sagte sie. »Maria Testa.« Wie eine Sängerin, die einem schwebenden Ton nachlauschte, der den Übergang von einer Stimmlage in die andere markierte, hielt sie inne und lauschte dem Nachhall ihres Namens. »Obwohl ich nicht sicher bin, ob er mir überhaupt noch gehört«, fügte sie hinzu.
»Wie meinen Sie das?« fragte Brunetti.
»Man muß ein Verfahren durchlaufen, wenn man ausscheidet. Aus dem Orden, meine ich. Ich glaube, das ist, wie wenn eine Kirche säkularisiert wird. Sehr kompliziert. Und es kann lange dauern, bis sie einen gehen lassen.«
»Man will vielleicht sicher sein, daß Sie es sind - ich meine, Ihrer Sache sicher«, mutmaßte Brunetti.
»Ja. Das kann Monate dauern, vielleicht Jahre. Man muß Briefe von Leuten vorweisen, die einen kennen und glauben, daß man zu der Entscheidung fähig ist.«
»Sind Sie deswegen hier? Kann ich Ihnen damit aushelfen?«
Sie winkte ab, wischte seine Worte beiseite und mit ihnen ihr Gehorsamkeitsgelübde.
»Nein, das spielt keine Rolle. Es ist erledigt. Vorbei.«
»Verstehe«, sagte Brunetti, ohne etwas zu verstehen.
Sie sah zu ihm herüber, ihr Blick so offen, ihre Augen so anrührend schön, daß Brunetti ein Vorgefühl des Neides auf den Mann empfand, der einmal ihr Keuschheitsgelübde hinwegfegen würde.
»Ich bin hier wegen der casa di cura. Was ich dort gesehen habe.«
Brunettis Herz flog über die Ferne hinweg ans Bett seiner Mutter, augenblicklich wachsam für jede Andeutung von Gefahr.
Aber bevor er sein Erschrecken in eine Frage kleiden konnte, sagte sie: »Nein, Commissario, es geht nicht um Ihre Mutter. Ihr wird nichts zustoßen.« Sie verstummte, verlegen ob ihrer Worte und wie sie sich anhörten, auch ob der bitteren Wahrheit, die darin steckte: Brunettis Mutter konnte nichts mehr zustoßen als der Tod. »Entschuldigung«, fügte sie kleinlaut hinzu, sagte aber nichts weiter.
Brunetti betrachtete sie verwirrt, wußte aber nicht, wie er sie fragen sollte, was sie meinte. Ihm fiel der Nachmittag ein, an dem er seine Mutter zuletzt besucht hatte, halb in der Hoffnung, die lange vermißte Suor Immacolata zu sehen, denn er wußte, daß sie dort der einzige Mensch war, der den Schmerz verstand, der auf seiner Seele lastete. Doch dann hatte er statt der liebenswerten Sizilianerin nur Suor Eleonora im Gang
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