Brunetti 06 - Sanft entschlafen
»Über den Ort, an dem Sie Ihre Berufung hinter sich gelassen haben.«
»Das Pflegeheim?« fragte sie unnötigerweise.
Brunetti nickte. »Von welchem ist die Rede?«
»San Leonardo. Das ist in der Nähe des Ospedale Giustinian. Der Orden stellt teilweise das Personal.«
Ihm fiel auf, daß sie beim Sitzen die Füße flach nebeneinander auf dem Boden stehen hatte, die Knie fest aneinander gepreßt. Sie öffnete mit einiger Mühe ihre Handtasche und nahm ein Blatt Papier heraus, das sie auseinanderfaltete, um das darauf Geschriebene zu betrachten. »Letztes Jahr«, begann sie unsicher, »sind dort fünf Leute gestorben.« Sie drehte das Blatt um und beugte sich vor, um es ihm hinzulegen. Brunetti besah sich die Liste.
»Diese Leute?« fragte er. Sie nickte. »Ich habe ihre Namen notiert, ihr Alter und woran sie gestorben sind.« Er blickte wieder auf die Liste:
Es waren die Namen von drei Frauen und zwei Männern. Brunetti entsann sich, daß er einmal irgendeine Statistik gelesen hatte, die besagte, daß Frauen länger lebten als Männer, aber hier war das nicht der Fall. Eine der Frauen war in den Sechzigern gewesen, die anderen Anfang Siebzig. Beide Männer waren älter. Und wie es bei Leuten ihres Alters oft so geht, waren sie an Gehirnschlägen, Herzinfarkten und Lungenentzündungen gestorben.
»Warum geben Sie mir das?« fragte er, indem er sie ansah.
Obwohl sie auf die Frage vorbereitet gewesen sein mußte, ließ sie sich mit der Antwort Zeit.
»Weil Sie der einzige Mensch sind, der da vielleicht etwas unternehmen kann.«
Brunetti wartete kurz, ob sie das näher erläutern würde, und als sie es nicht tat, fragte er: »Was meinen Sie mit ›da‹?«
»Ich habe Zweifel an ihrem Tod - an den Todes ursachen.«
Er schwenkte die Liste zwischen ihnen durch die Luft. »Aber sind die Todesursachen hier nicht aufgeführt?«
Sie nickte. »Doch. Aber wenn das, was da steht, nicht wahr ist, haben Sie dann die Möglichkeit, festzustellen, woran sie wirklich gestorben sind?«
Brunetti brauchte nicht erst nachzudenken, bevor er antwortete; für Exhumierungen gab es klare Gesetze. »Nicht ohne richterliche Anordnung oder ein Ersuchen der Familie.«
»Oh«, sagte sie. »Das wußte ich nicht. Ich war - wie soll ich sagen -, ich war so lange aus der Welt, daß ich nicht mehr weiß, wie diese Dinge ablaufen.« Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Vielleicht habe ich es ja nie gewußt.«
»Wie lange haben Sie dem Orden angehört?« fragte er.
»Zwölf Jahre, seit meinem fünfzehnten Lebensjahr.« Sie bemerkte sein Erstaunen und sagte: »Das ist eine lange Zeit, ich weiß.«
»Aber so sehr waren Sie doch gar nicht aus der Welt«, meinte Brunetti. »Immerhin haben Sie eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht.«
»Nein«, antwortete sie rasch. »Ich bin keine Krankenschwester. Jedenfalls keine ausgebildete. Der Orden hat gesehen, daß ich eine...« Sie verstummte abrupt, und Brunetti begriff, daß sie in der ungewohnten Lage gewesen war, eine Begabung an sich anzuerkennen oder sogar sich selbst zu loben, worauf ihr nichts anderes übrigblieb, als kurzerhand in Schweigen zu versinken. Nach einer Pause, die es ihr gestattete, jegliches Eigenlob aus dem, was sie sagen wollte, zu entfernen, fuhr sie fort: »Der Orden fand, daß es gut für mich wäre, wenn ich alten Leuten zu helfen versuchte, deshalb wurde ich in die Altenheime geschickt.«
»Wie lange waren Sie da?«
»Sieben Jahre. Sechs draußen in Dolo und eines im San Leonardo«, antwortete sie. Demnach wäre Suor Immacolata, wie Brunetti sich klarmachte, gerade zwanzig gewesen, als sie ins Heim seiner Mutter kam, ein Alter, in dem die meisten Frauen zu arbeiten anfingen, einen Beruf wählten, Männer kennenlernten, Kinder bekamen. Er stellte sich vor, was diese anderen jungen Frauen in diesen Jahren alles erreicht haben konnten, dann stellte er sich vor, wie das Leben für Suor Immacolata ausgesehen haben mußte, um geben vom Geheul der Irren und dem Gestank der Inkontinenten. Wäre Brunetti ein Mann mit Sinn für Religion gewesen, einem Glauben an irgendein höheres Wesen, vielleicht hätte er Trost in dem spirituellen Lohn gefunden, den sie letztendlich für alle diese geopferten Jahre empfangen würde. Er schob den Gedanken beiseite und fragte, während er die Liste vor sich hinlegte und glättend mit der Hand darüberfuhr: »Was war ungewöhnlich am Tod dieser Leute?«
Sie ließ sich einen Augenblick Zeit, und als sie endlich antwortete,
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