Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
etwas änderte. Dann erstarb von einer Sekunde auf die andere der Motor, unter furchtbarem Krachen stoppte das Boot, und Carlo flog gegen das Ruder und sein Onkel auf ihn. Als er aufblickte, sah er gerade noch, wie Elettra, die beim ersten Anprall gegen die Kabinenwand geschleudert worden war, von dieser zurückfederte und durch die Kabinentür aufs Deck hinausflog. Ein Krachen folgte, ein Beben, und plötzlich lag das Boot still.
Carlo stieß seinen Onkel von sich weg und stand auf. Er fühlte einen Schmerz in der linken Seite, aber seine einzige Sorge war, Elettra zu folgen. Mit jeder Bewegung fühlte er den Schmerz erneut, ignorierte ihn und kämpfte sich durch die Tür nach draußen, wo Donner krachten, Winde heulten und Regen prasselte. In dem Lichtschein, der aus der Kabine fiel, sah er Elettra auf dem Deck knien, sich aber schon wieder erheben. Eine Welle brach übers Heck, schwappte nach vorn, riß sie wieder zu Boden und spülte sie Carlo genau vor die Füße. Er wollte sich bücken, um ihr zu helfen, aber als er sich bewegte, schlug der Schmerz in seinem Inneren wieder zu, so daß er erstarrte und plötzlich Angst um sich - und darum auch um sie - hatte.
Hilflos stand er da und blickte auf sie hinunter, und die Zeit blieb stehen. Elettra konnte ein Knie unter sich ziehen und sah zu ihm auf. Sie fuhr sich mit der linken Hand durchs Haar und versuchte es aus dem Gesicht zu bekommen, aber es war so mit Regen und Meerwasser vollgesogen, daß sie es nur ein wenig zur Seite schieben konnte. Er erinnerte sich, wie er sie einmal im Schlaf beobachtet hatte, da war ihr Gesicht so ähnlich wie jetzt von den Haaren zugedeckt gewesen - und in diesem Moment krachte ihm die Kabinentür in den Rücken, und Vittorio kam aufs Deck hinausgestürzt.
Es ging so schnell, daß Carlo ihn auch dann nicht hätte hindern können, wenn er nicht gelähmt gewesen wäre von dem Schmerz in seiner Seite und der Angst vor dem noch größeren Schmerz, den jede Bewegung verursachte. Vittorio warf sich mit unverständlichem Gebrüll auf Elettra, packte mit der linken Hand ihren Haarschopf und riß sie daran, noch immer brüllend, zur Backbordseite. Mit der rechten Hand griff er in seine Jackentasche und holte das Messer hervor, mit dem er die Fische auszunehmen pflegte. Schon holte er weit aus und stieß zu, wobei er ihr Gesicht oder ihren Hals zu treffen versuchte.
Carlo handelte, ohne zu denken. Mit der einen Hand an die Reling geklammert, trat er instinktiv mit dem Fuß nach seinem Onkel und traf ihn am Unterarm, gerade als er zustach, wodurch der Stich nach oben abgelenkt wurde. Das Messer fuhr durch Vittonos linken Jackenärmel und öffnete seinen Arm bis zum Handgelenk, bevor es durch Elettras Haare zischte, an denen er sie noch immer gepackt hielt, und ihre Kopfhaut leicht streifte. Seinen Schrei entriß ihm der Wind, das Messer flog ihm aus der Hand, während in seiner anderen Hand Elettras abgemähte Haare flatterten.
Vittorio öffnete langsam die Hand, und die Haare wehten im Wind davon. Er drückte seinen Arm an den Leib und drehte sich zu seinem Neffen um, als wollte er ihm Gewalt antun, aber was er hinter Carlo sah, veranlaßte ihn, kehrtzumachen und zum Bug zu rennen. Ohne eine Sekunde zu zögern, sprang er mit einem weiten Satz ins Wasser, wobei er den Arm an sich gedrückt hielt, so gut es ging. Die Welle brach über sie herein und schleuderte Carlo zuerst zu Boden, dann gegen die schrägstehende Bootswand. Im Zurückfließen wollte sie ihn zum Heck spülen, aber da war Elettras Körper im Weg, und so endeten sie als ein wirres Knäuel halb in, halb außerhalb der Kabine, die Gliedmaßen ineinander verschlungen wie in einer bitteren Parodie der Vergangenheit.
Wieder gehorchte er seinem Instinkt und versuchte auf die Beine zu kommen, was ihm erst gelang, als Elettra sich neben ihm hinkniete und ihn vom Boden hochstemmte.
Alles Reden wäre sinnlos gewesen bei dem Getöse, und so packte er wortlos ihren Arm und zog sie, gehemmt durch seine Schmerzen, zum Bug. Ziehend und schiebend schleppten sie sich zur Bugspitze hinauf, von wo er sie, ohne eine Sekunde nachzudenken, hinunterstieß. Die Suchscheinwerfer spendeten genug Licht, daß er sehen konnte, wie sie im Wasser versank und genau vor ihm wieder auftauchte. Er sprang ihr nach, und das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Als er wieder auftauchte, brüllte er ihren Namen -m und fühlte, wie eine Hand in seine Haare griff und ihn zog, obschon ihm jeder Richtungssinn
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