Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
noch etwas anderes wahrnehmen konnte als Carlo, wenn sie mit ihm zusammen war, gewahrte sie jetzt, allerdings nur vage, eine niedrige Wolkenbank jenseits der undeutlich zu sehenden Türme der Stadt. Doch wenn sie in Richtung Adria blickte, die ein Stück weit hinter den niedrigen Häusern von Pellestrina und dem Damm, der es vor ihren Wassern schützte, versteckt war, sah sie nur vereinzelte flauschige Wölkchen an einem Himmel von so durchscheinendem Blau, daß ihre ohnehin schon große Freude noch größer wurde. Als Vittorio dann sein Boot von der Tankstelle oberhalb der Kirche San Vito ablegte, lag das Polizeiboot bereits an der Mole von Pellestrina, und als das Fischerboot auf dem Weg nach Süden dort vorbeikam, war Brunetti schon in der Bar und trank seinen ersten Schluck Wein.
Zu sagen, daß Signorina Elettra sich vor Zio Vittorio fürchtete, wäre übertrieben gewesen, aber die Behauptung, sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart, hätte auch nicht gestimmt. Ihre Reaktion auf ihn lag irgendwo dazwischen, doch da er Carlos Onkel war, gelang es ihr gewöhnlich, das Unbehagen zu ignorieren, das er in ihr erzeugte. Zio Vittorio war jederzeit zuvorkommend zu ihr und schien sich immer zu freuen, sie in Carlos Haus und an seinem Tisch zu sehen. Vielleicht käme es einer Erklärung ihrer Empfindungen nah, zu sagen, daß sie jedesmal, wenn sie mit Vittorio sprach, hinterher den Verdacht hatte, er habe seinen heimlichen Spaß an der Vorstellung, wo sie in Carlos Haus sonst noch gewesen war.
Zio Vittorio war kein großer Mann, kaum größer als sie, und hatte den gleichen muskulösen Körperbau wie sein Neffe. Da er die meiste Zeit seines Lebens auf dem Meer zugebracht hatte, war sein Gesicht so dunkel wie Mahagoni, wodurch die grauen Augen - von denen man sagte, sie ähnelten denen seiner Schwester, Carlos Mutter - um so heller wirkten. Er trug sein schütteres Haar straff nach hinten gekämmt und bändigte es mit einer Pomade, die nach Zimt und Eisenspänen roch. Sein Gebiß war makellos: Eines Abends hatte er damit Walnüsse geknackt und Elettra nur angelächelt, als sie ihr Entsetzen darüber nicht verhehlen konnte.
Er mußte um die Sechzig sein, ein Alter, das ihn für Elettra automatisch in jenes geschlechtslose Nichts beförderte, in dem jedes offen gezeigte Interesse an Sex bestenfalls peinlich war, wenn nicht schlimmer. Und doch schien noch hinter seinen harmlosesten Bemerkungen das Wissen um sexuelle Aktivität zu lauern, als ob es ihm völlig unmöglich wäre, sich ein Universum vorzustellen, in dem Männer und Frauen auch auf andere Weise in Beziehung zueinander stehen könnten. Irgendwo unter dem wohligen Schauer, der sie immer noch überlief, wenn sie an Carlo dachte, lauerte dieses verschwommene Unbehagen, obwohl sie es zu ignorieren gelernt hatte, besonders an einem Tag wie diesem, wenn der Himmel im Osten soviel Schönes verhieß.
Das schwere Boot setzte rückwärts in den Kanal und wandte sich nach Süden, wieder an Pellestrina vorbei und auf die schmale Mündung des Porto di Chioggia zu, durch den sie aufs offene Meer hinausfahren würden. Ans Fischen war an diesem Tag nicht zu denken: Onkel Vittorio hatte zu Carlo gesagt, er wolle mit dem Boot nur aufs Meer hinaus, um einen frisch eingebauten Austauschmotor zu testen. Beim Auslaufen hatte dieser Motor noch einwandfrei geklungen, aber als sie gerade auf Höhe des Ottagono di Caroman waren, rief Vittorio ihnen nach hinten zu, daß etwas nicht stimme. Nur Sekunden später spürten Carlo und Elettra eine plötzliche Veränderung im Rhythmus des Motors, der zu stottern begann, worauf sich das Boot nur noch ruckweise vorwärts bewegte.
Carlo ging nach vorn. »Was ist?« fragte er.
Der Ältere schaltete die Zündung aus, dann wieder ein, dann wieder aus. In der kurzen Stille, die sich dadurch ergab, antwortete er: »Würde sagen, Schmutz in der Kraftstoffleitung.« Er schaltete den Motor wieder ein, und diesmal sprang er sofort an und tuckerte in stetigem Rhythmus wie gewohnt vor sich hin.
»Klingt für mich gut«, meinte Carlo.
»Hm«, brummte sein Onkel, der nur scheinbar Carlo zuhörte, in Wirklichkeit aber den Motorgeräuschen lauschte.
Er legte die linke Hand flach auf die Steuerkonsole und schob mit der Rechten den Gashebel vor. Der Motor wurde lauter, doch plötzlich gab er einen häßlichen Rülpser von sich, dem ein paar Erstickungslaute folgten, bevor er ganz verstummte.
Carlo hatte zu seinem Leidwesen schon einsehen müssen, daß er
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