Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
zuschritt, winkte der abermals ab, ungehalten diesmal, worauf der junge Mann so eilig an ihm vorbeitrabte, daß man bald nur noch das immer leiser werdende Knarren seiner Stiefel hörte.
Als wieder Stille eingekehrt war, schloß der Arzt die Tür zum Patientenzimmer und näherte sich der Sitzgruppe. Nach einem freundlichen Nicken in Vianellos Richtung wandte er sich in unverhohlen aggressivem Ton an Marvilli. »Sind Sie hier der Verantwortliche?« fragte er.
»Ja, der bin ich«, antwortete Marvilli, und Brunetti hörte an seinem Tonfall, wie schwer es ihm fiel, Ruhe zu bewahren. »Darf ich auch erfahren, wer Sie sind?« fuhr der Capitano fort. »Und was Sie mit Ihren Fragen bezwecken?«
»Ich bin Arzt und habe da drin einen Patienten, der überfallen wurde. Und da Sie ein Carabiniere sind und vermutlich Bescheid wissen, möchte ich diesen Vorfall melden oder vielmehr Anzeige erstatten.«
»Überfallen? Er?« fragte Marvilli mit gespielter Neugier. »Ihr Patient ist auf zwei von meinen Leuten losgegangen und hat einem von ihnen die Nase gebrochen. Wenn also jemand tätlich geworden ist, dann doch wohl er.«
Der Arzt maß Marvilli mit einem Blick voller Verachtung, die er auch in seiner Stimme durchklingen ließ. »Ich weiß nicht, welchen Rang Sie bekleiden, Signore, aber falls Ihre Leute meinen Patienten, nachdem sie ihm die Schädeldecke gebrochen hatten, nicht obendrein noch entkleidet haben, dann wurden sie - die doch vermutlich bewaffnet waren - von einem nackten Mann angegriffen.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Wo Sie herkommen, mag das anders sein, aber bei uns in Venedig ist es der Polizei verboten, Zivilisten zusammenzuschlagen.« Damit kehrte der Arzt Marvilli den Rücken, zum Zeichen, daß er mit ihm fertig sei, und wandte sich Vianello zu. »Auf ein Wort, Ispettore?« Und bevor Vianello etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Drinnen, bitte.«
»Natürlich, Dottore«, gab Vianello zurück. Und fuhr, mit der Rechten auf Brunetti deutend, fort: »Das ist mein Vorgesetzter, Commissario Brunetti. Er ist sehr beunruhigt über das, was sich hier zugetragen hat.«
»Ah, Sie sind also der Commissario!« Der Arzt streckte Brunetti die Hand hin und lächelte so ungezwungen, als sei es ganz natürlich, morgens um vier Bekanntschaft zu schließen. »Sie würde ich auch gern sprechen«, sagte er ohne Rücksicht darauf, daß Marvilli keinen Meter weit entfernt stand.
Der Arzt ließ Brunetti und Vianello eintreten, dann schloß er die Tür. »Mein Name ist Damasco«, erklärte er und wandte sich zum Bett. »Bartolomeo.«
Auf dem Bett lag ein Mann, der ihnen mit verstörtem Blick entgegensah. Die Deckenbeleuchtung war nicht eingeschaltet; einzige Lichtquelle war eine kleine Nachttischlampe, in deren Schein Brunetti dichtes, hellbraunes Haar ausmachen konnte, das dem Mann in die Stirn fiel. Das Gesicht über dem offenbar schon stark graumelierten Bart war rauh und vernarbt und das linke Ohr des Patienten rot angeschwollen.
Pedrolli bewegte die Lippen, doch sein Kollege beugte sich beschwichtigend über ihn. »Keine Angst, Gustavo. Diese Herren wollen dir helfen. Und fürchte nicht um deine Stimme. Die kommt schon wieder. Was du jetzt brauchst, sind Ruhe und Zeit, damit die Medikamente wirken können.« Dottor Damasco tätschelte dem Patienten die bloße Schulter, dann zog er ihm die Decke hoch bis zum Kinn.
Der Mann auf dem Bett blickte ihn durchdringend an, bemüht, sich dem anderen auch ohne Worte verständlich zu machen. »Sei unbesorgt, Gustavo. Bianca geht es gut. Und Alfredo auch.«
Bei dem letzten Namen ging ein schmerzhaftes Zucken über Pedrollis Gesicht. Er kniff die Augen zu, um nicht zu verraten, was in ihm vorging; dann drehte er, immer noch mit geschlossenen Augen, den Kopf weg.
»Was ist denn mit ihm?« fragte Brunetti.
Damasco schüttelte den Kopf, als wolle er sich von der Frage distanzieren. »Das herauszufinden ist Ihre Aufgabe, Commissario. Ich kann nur die körperlichen Symptome behandeln.«
Als der Arzt sah, wie sehr seine brüske Erwiderung die beiden Polizisten verblüffte, führte er sie vom Krankenbett weg. An der Tür sagte er: »Dottoressa Cardinale rief mich gegen zwei Uhr morgens an. Die Carabinieri hätten einen Mann in der Notaufnahme eingeliefert - sie sagte mir auch, um wen es sich handelte: Gustavo Pedrolli, ein Kollege aus der Pädiatrie. Ein Schlag mit einem so harten Gegenstand, daß er die Schädeldecke durchdringen konnte, hatte ihn hinterm linken Ohr
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